Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Bericht über meine Erlebnisse in den Jahren 1945/46 in meinem Heimatdorf Brenn, bei Reichstadt, Sudetenland [Nordböhmen, Mai 1945 - Juni 1946]
Autor/Autorin: Erika W-Sch., geb. 1926
Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, maschinenschriftliches Manuskript, 6 Blatt
Entstehungszeit und -ort: nicht bekannt
Entstehungszusammenhang: nicht bekannt
Zeitraum der Schilderung: 08.05.1945-06.06.1946
Schlagworte: Besatzung, Enteignung, Familie, Lebensverhältnisse, Misshandlungen, Vertreibung, Ausweisung, Zwangsarbeit
Geographische Schlagworte: Tschechoslowakei, Nordböhmen, Sudetenland, Brenn bei Reichstadt
Konkordanz: Brenn → Brenná, heute Ortsteil von Zákupy (Reichstadt), Tschechien
Fundort: Heimatarchiv Böhmisch Leipa - Haida - Dauba, Waldkraiburg, Signatur Archiv Haida, Ordner 121, Brenn, Seite 63-73; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/sammlungsarchiv-der-sudetendeutschen-heimatlandkreise-boehmisch-leipa-und-dauba-haida-archiv
Editionsmodus: (Vollständiges Digitalisat)
Inhalt:
Die Autorin schildert das Kriegsende und die Nachkriegszeit im Heimatort ihrer Familie, Brenn in Nordböhmen. Ihrer Beschreibung nach bleibt die Lage dort auch während der russischen Besatzung ruhig, erst als auf den zunächst eingesetzten Kommissar eine als Partisanen bezeichnete undisziplinierte Truppe folgt und anscheinend selbstherrlich im Ort agiert,1 kommt es zu Übergriffen. Frau W-Sch. schildert die schwierigen Lebensbedingungen der deutschen Einwohner des Ortes. Sie werden enteignet, schlecht versorgt und müssen Zwangsarbeit leisten, viele werden hierzu eigens in Arbeitslager gebracht. Frau W-Sch. erinnert sich aber auch an hilfsbereite Tschechen. Der Bericht endet mit der Ausreise der Familie nach Deutschland im Juni 1946.
Einordnung/Kommentar:
Die Berichterstatterin verließ mit Mutter und Schwester ihren Wohnort Aachen, um Luftangriffen zu entgehen, und zog zu den Großeltern nach Brenn bei Reichstadt, das sie als ihr Heimatdorf bezeichnet und wo sich auch die Familie ihrer Tante aus dem schlesischen Riesengebirge einfand. 2 Angesichts der widrigen Lebensumstände in den Jahren 1945 und 1946 gewinnt die Möglichkeit, zum dienstverpflichtet in Aachen verbliebenen Vater zurückzukehren, für sie und ihre Familie zusehends an Bedeutung - die Familie fiebert schließlich der zunächst gefürchteten Ausweisung geradezu entgegen.
Die Erlebnisse der Autorin und ihrer Familie bis zur Ausweisung entsprechen weitgehend der überwiegenden Entwicklung in nicht direkt von Kriegshandlungen betroffenen Dörfern in Nordböhmen. Anders als bei der Bevölkerung der Ostprovinzen des Deutschen Reiches war unter den Sudetendeutschen die Bereitschaft, beim Näherrücken der Front zu fliehen, nicht weit verbreitet bzw. gab es im Januar und Februar 1945 keine Evakuierungen, die gleichsam darauf vorbereiteten.3 Die Region musste vielmehr selbst viele Flüchtlinge, vor allem aus Schlesien, aufnehmen. Die von Frau W-Sch. angesprochene Enteignung und die ersten wilden Vertreibungen fanden schon im Mai 1945 statt und setzten sich in den folgenden Monaten fort. Familie W-Sch. wurde im Juni 1946 nach einem vorübergehenden Ausweisungsstopp ausgesiedelt. Die von Frau W-Sch. geschilderten Lebensverhältnisse entsprechen den Erfahrungen vieler Sudetendeutscher - mangelhafte Versorgung, Lagerhaft, Zwangsarbeit und Gewalt waren häufig, tödliche Übergriffe jedoch eher selten. Hinzu kam das problematische Aufeinandertreffen mit tschechischen Neusiedlern.4
Frau W-Sch.s Bericht ist in seinem wertenden Duktus beispielhaft für viele Erinnerungsberichte zu Flucht und Vertreibung. Aus eigenem Erleben schildert sie positive wie negative Erfahrungen mit Tschechen und ist über einzelne Übergriffe auch deshalb empört, weil sie "nach monatelangem Zusammenleben mit diesen Menschen!" geschahen. Sie setzt diese Ereignisse nicht mit der deutschen Besatzungspolitik in der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion in Beziehung. Stattdessen vergleicht sie die Vertreibung mit dem Holocaust5 und sieht die Ursachen für die Behandlung deutscher Minderheiten am Kriegsende und die Vertreibung in Haß- und Rachegefühlen. Nach Hahn und Hahn ist dies in derartigen Erlebnisberichten ein verbreitetes Narrativ, das das Erinnern an die Vertreibung geprägt hat. Die ihm oftmals zugrundeliegenden Berichte von nicht selbst erlebten Gräueltaten seien empirisch jedoch meist nicht überprüfbar.6 Auch Frau W-Sch. kann aus eigenem Erleben lediglich von Übergriffen der eingangs erwähnten undisziplinierten Truppe und den staatlichen Zwangsmaßnahmen berichten. Durch ihre Schilderung macht sie deutlich, dass diese zu ausgesprochen schwierigen Lebensverhältnissen führten. Von Hassausbrüchen und exzessiven Gewalttaten der tschechischen Bevölkerung kann sie jedoch nicht berichten, ist aber von deren Existenz überzeugt und geht deshalb mit dem tschechischen Volk hart ins Gericht.
Frau W-Sch. erwähnt einen Onkel, der als Bauingenieur für den tschechischen Schuhkonzern Baťa gearbeitet habe und deshalb gebeten wurde, als Spezialist in der Tschechoslowakei zu bleiben. Dieses Vorgehen war sowohl in der Tschechoslowakei wie in Polen nicht unüblich und ermöglichte es zahlreichen Angehörigen der deutschen Minderheit, in ihrer Heimat zu bleiben.7 Der Onkel von Frau W-Sch. hatte an der Firmenzentrale des Baťa-Konzerns in Zlín mitgebaut und war dafür geehrt worden. Der damals weltgrößte Schuhhersteller ließ seinen Firmensitz in den 1920er Jahren als funktionalistische Musterstadt umgestalten. An diesem bedeutenden Pionierprojekt der architektonischen Moderne war neben namhaften tschechischen Architekten auch Le Corbusier beteiligt.8 Frau W-Sch.s Onkel hatte also in illustrer Gesellschaft gearbeitet, das tschechische Angebot war daher naheliegend. Der Onkel lehnte dennoch aufgrund der bis dahin erlittenen schlechten Behandlung durch die tschechoslowakischen Behörden ab.
1 Vgl. Staněk 2002, S. 83-88; Wiedemann 2007, S. 83, 89f.
2 Während des Zweiten Weltkriegs wurden zahlreiche Menschen aus den durch Luftangriffe bedrohten Regionen in südliche und östliche Teile des Deutschen Reiches evakuiert (vgl. Groehler 1990, S. 264-283). Aachen erlebte zahlreiche Luftangriffe, zwischen 1941 und 1944 fünf Großangriffe.
3 Schwartz 2008, S. 587.
4 Vgl. Staněk 2002; Staněk 2007; Wiedemann 2007, S. 76-89, 102-104, 240-243, 293-305; Schwartz 2008, S. 603f, 621-625, 639; Hoensch 1992, S. 125-128; Radanovský 1997; Alexander 1997.
5 Insgesamt mussten über 2,2 Millionen Deutsche die Tschechoslowakei verlassen, dabei kamen 15-30.000 Menschen ums Leben (s. Wiedemann 2007, S. 243f; Staněk 2002, S. 205-212) - erschreckende Zahlen, die aber einen Vergleich mit dem Holocaust nicht rechtfertigen.
6 Hahn, Hahn 2010, S. 83-91.
7 Gafert 2011, S. 69-71; Schwartz 2008, S. 607.
8 Nerdinger 2009, S. 21, 41-47, 55-57.
Literatur:
Alexander 1997: Manfred Alexander: Kriegsfolgen und die Aussiedlung der Deutschen. In: Robert Maier (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, S. 95-104
Gafert 2011: Bärbel Gafert: Am Ende von Flucht und Massenvertreibung - die "Sondertransporte" ab 1947/48. Teil I: Transporte mit Kindern und Bergleuten. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 28/2011, S. 55-74
Groehler 1990: Olaf Groehler: Bombenkrieg gegen Deutschland. Berlin 1990
Hahn, Hahn 2011: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn u.a. 2010
Hoensch 1992: Jörg K. Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakei. 3., verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1992
Nerdinger 2009: Winfried Nerdinger (Hg.): Zlín. Modellstadt der Moderne. Berlin 2009
Radanovský 1997: Zdeněk Radanovský: Die Vertreibung der Deutschen 1945-1948. In: Robert Maier (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, S. 79-94
Schwartz 2008: Michael Schwartz: Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656
Staněk 2002: Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien 2002
Staněk 2007: Tomáš Staněk: Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945-1948. München 2007
Wiedemann 2007: Andreas Wiedemann: "Komm mit uns das Grenzland aufbauen!" Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007