Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Der 5. Mai 1945 in Prag. Erlebnisbericht eines sudetendeutschen Studienurlaubers der Deutschen Karls-Universität in Prag, bestimmt für das Archiv der Sudetendeutschen
Autor/Autorin: Ferdinand S., Soldat, Student der Philosophie und Pädagogik
Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, maschinenschriftliches Manuskript, 16 Seiten
Entstehungszeit und -zusammenhang: Der Text wurde im März 1985 zum 40. Jahrestages des Kriegsendes am 08. Mai 1985 verfasst. Der Autor möchte, wie er im Vorwort betont, darauf hinweisen, dass "dieser Tag der Beginn eines unsäglich traurigen Schicksals" war.
Zeitraum der Schilderung: 05.05.1945-1946/1949
Personen: Josef Kardinal Beran (1888-1969), Theologieprofessor, 1942-1945 in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Dachau inhaftiert, 1946 Erzbischof von Prag, 1949-1963 in der CSSR als Regimegegner unter Hausarrest, 1965 ausgewiesen
Prälat Adolf Kindermann (1899-1974): 1939 bis 1945 Leiter des sudetendeutschen Theologenkonvikts in Prag, 1945 Seelsorger in Prager Internierungslagern, ab 1946 in Königstein/Taunus in der kirchlichen Betreuung Heimatvertriebener tätig, Impulsgeber von "Kirche in Not" und der "Ostpriesterhilfe"1
Schlagworte: Pager Aufstand, Haft, Zwangsarbeit, Krankheit, Lebensverhältnisse, Misshandlungen, Tötungen, Vertreibung
Geographische Schlagworte: Tschechoslowakei, Praha, Prag, Doxan, Gut Ährental bei Doxan
Konkordanz: Doxan → Doksany, Tschechien; Gut Ährental bei Doxan → Kloster und Schloss Doksany, 1945 Teil des Staatsgutes Roudnice
Fundort: Sudetendeutsches Archiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abteilung V: Nachlässe und Sammlungen, Signatur BayHStA SdA: Heimatberichte 442 (Sudetendeutsches Archiv F 442); https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/bayerisches-hauptstaatsarchiv
Editionsmodus: vollständiges Digitalisat
Inhalt:
Entgegen dem Titel bildet der 5. Mai 1945 nur den Ausgangspunkt des Berichtes. Über den Aufstand der Prager Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer berichtet der Autor aus seiner persönlichen Sicht als Mitglied einer "Studienurlauberkompanie", also als zum Studium beurlaubter Soldat. Er wurde bereits am Morgen des 6. Mai inhaftiert, erlebte also nur einen kleinen Teil der Vorgänge in Prag selbst. Seine knapp vierwöchige Haft im Karlák, einem Gefängnis am Karlsplatz, schildert er knapp.
Etwas ausführlicher geht Herr S. auf die Internierung und die Zwangsarbeit in der Landwirtschaft auf Gut Ährental bei Doxan ein. Er beschreibt die Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die er für zahlreiche Erkrankungen und Todesfälle verantwortlich macht. Der Autor wurde schließlich aus gesundheitlichen Gründen nach Pirna in Sachsen abgeschoben. Seine abenteuerliche Reise von dort über die Zonengrenze nach Augsburg und Passau, wo er an der philosophisch-theologischen Hochschule, der Vorläuferin der 1978 gegründeten Universität Passau, ein Studium aufnahm, schildert er vergleichsweise ausführlich. Abschließend gibt er vom Hörensagen Berichte über Misshandlungen Deutscher in der Tschechoslowakei wider.
Einordnung/Kommentar:
Während des Zweiten Weltkriegs gehörten etwa 70% aller deutschen männlichen Studenten der Wehrmacht an. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen war zum Studium beurlaubt worden, weil sie entweder Medizinstudenten waren, die nach dem Examen als Truppenärzte eingesetzt werden sollten, oder, wie der Autor, als Verwundete oder Kriegsversehrte nicht einsatzfähig waren.2 Wie viele Sudetendeutsche3 studierte Herr S. in Prag, wo die Geschichte der Universität im 20. Jahrhundert den Nationalitätenkonflikt in der Tschechoslowakischen Republik widerspiegelt. Die 1348 gegründete Karls-Universität wurde bereits 1882 in einen deutsche und eine tschechischen Hochschule geteilt. Im November 1939 wurden nach der Erschießung eines tschechischen Studenten und anschließenden Demonstrationen alle tschechischen Hochschulen der besetzten "Resttschechei" geschlossen und die Prager Universität zur deutschen "Reichsuniversität" erklärt.4 Dieser Affront gegen die Tschechen trug dazu bei, dass die Angehörigen der Universität und damit auch die Wohnheime der zahlreichen uniformierten und zum Teil offenbar auch bewaffneten Studenten während des "Prager Aufstandes" zu den Angriffszielen gehörten.
Der "Prager Aufstand" begann am Morgen des 5. Mai 1945 durch eine Radioproklamation. Die deutsche Garnison kapitulierte am 8. Mai gegenüber den Tschechen, nachdem ihr freies Geleit gewährt worden war. Während des Aufstandes sowie in den darauf folgenden Tagen kam es zu Übergriffen gegen die deutsche Minderheit, denen circa 15.000 Menschen zum Opfer fielen.5 Der Autor wurde bereits am Morgen des 6. Mai inhaftiert wurde. Anschließend wurde er zwangsweise zur Arbeit in der Landwirtschaft auf dem Gut Doxan eingesetzt, das sich in adligem Besitz befunden und zeitweise auch ein Kloster beherbergt hatte. 1945 wurde es verstaatlicht, im Mai dieses Jahres wurden vom zuständigen Ministerium dringend Arbeitskräfte für die Landwirtschaft angefordert.6 In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Einsatz S.' und anderer deutscher Zwangsarbeiter, die oft ähnliches wie Herr S. erlebten7, zu sehen.
Herr S. betont, "nur das niedergeschrieben [zu haben], was der vollen Wahrheit entspricht, was ich selbst erlebt habe und noch bis heute nach 40 Jahren deutlich in meiner Erinnerung blieb." Damit möchte er die Authentizität seiner Schilderungen unterstreichen. Seine Glaubwürdigkeit ist ihm besonders wichtig, da er darauf aufmerksam machen möchte, dass das Kriegsende für die Sudetendeutschen der Beginn ihres Leidens gewesen sei. Offenbar möchte er zu der in den Vertriebenenverbänden Anfangs der 1980er Jahre breit und mit Besorgnis diskutierten Tendenz im öffentlichen Gedenken einen Kontrapunkt setzen, die im Kriegsende in erster Linie die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus sieht.8
In dieser Absicht heraus räumt Herr S. Schilderungen von Grausamkeiten gegenüber Deutschen in seinem Bericht großen Raum ein. Dabei übernimmt, wohl um die Wirkung seiner eigenen Erlebnisse zu unterstreichen und damit einem für derartige Aussagen typischen Muster folgend9, Berichte Dritter über Ausschreitungen, deren Grausamkeiten und Opferzahlen weit über das selbst erlebte hinausgehen. Ohne dass er die Möglichkeit besäße, diese Aussagen zu überprüfen, beurteilt Herr S. sie anscheinend als die "volle[...] Wahrheit". Auf diese Weise gelangten, wie Hahn und Hahn mehrfach zeigen10, vorgebliche Gewissheiten in den deutschen Erinnerungsdiskurs, die durch einzelne präzise Angaben wie Opferzahlen oder Namen von Berichterstattern oder Tatorten den Anschein erwecken, historische Tatsachen zu sein. Viele dieser Erzählungen lassen sich jedoch wissenschaftlich nicht bestätigen.
Herrn S.' Bericht enthält selbst ein Beispiel, wie unterschiedlich die Bewertung einer Person aus verschiedenen Blickwinkeln ausfallen kann. Herr S. ordnet ein antideutsches Zitat nachträglich, wie die unterschiedliche Schrifttype im Manuskript verrät, dem Prager Erzbischof Beran zu, welcher heute als "Brückenbauer" in der deutsch-tschechische Aussöhnung dargestellt wird.11
1 Huber 1977, S. 615-616, Online: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0001/bsb00016328/images/index.html?id=00016328&fip=eayayztsewqeayaxssdasyztsqrseayaxs&no=1&seite=631; Zugriff am 22.02.2011.
2 Grüttner 1995, S. 362-367.
3 Konrád 2006, S. 149.
4 Mößlang 1999, S. 607-614; Wróblewska 2003; Kavka, Petráň 1997; Dies. 1998; http://www.cuni.cz/UK-374.html; Zugriff am 27.10.2011.
5 Kokoska 2009; Overmans 1999, S. 176; Schwartz 2008, S. 587f, 621; Staněk 2002, S. 85-97.
6 Staněk 2007, S. 102.
7 Schwartz 2008, S. 621-625; Staněk 2002; Staněk 2007; Wiedemann 2007, S. 240-248.
8 Vgl. Niegel 1986, S. 159.
9 Vgl. Hahn, Hahn 2010, S. 84-86.
10 Hahn, Hahn 2010, S. 21-27, 35-77, 79-81, 365-373, 401-405, 408-411, 460-475, 498-507.
11 http://www.bbkl.de/h/henkes_r.shtml, Zugriff am 01.07.2011; Vgl. Probst 2003.
Literatur:
Dějiny University Karlove 1348-1990 [Geschichte der Karls-Universität 1348-1990]. Hrsg. v. Frantisěk Kavka und Josef Petráň. Bd. 3 (1802-1918) Praha 1997, Bd. 4 (1918-1990) Praha 1998.
Grüttner 1995: Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995
Hahn, Hahn 2010: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertriebenen im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010
Huber 1977: Kurt A. Huber: Kindermann, Adolf. in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 11, Berlin 1977, S. 615-616, Online: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0001/bsb00016328/images/index.html?id=00016328&fip=eayayztsewqeayaxssdasyztsqrseayaxs&no=1&seite=631; Zugriff am 22.02.2011
Kokoska 2009: Stanislav Kokoska: Prag im Mai 1945. Die Geschichte eines Aufstandes. Göttingen 2009
Konrád 2006: Ota Konrád: Die deutschen Hochschullehrer in Prag vor und nach 1938/39. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 147-160
Mößlang 1999: Markus Mößlang: Schulen und Hochschulen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. Teil 2. München 1999, S. 584-614
Overmans 1999: Rüdiger Overmans: "Amtlich und wissenschaftlich erarbeitet" - Zur Diskussion über die Verluste während Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der CSR. In: Detlef Brandes: Erzwungene Trennung. Vertreibung und Aussiedlung in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999, S. 149-177
Schwartz 2008: Michael Schwartz: III. Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656
Wróblewska 2003: Teresa Wróblewska: Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Straßburg als Modell nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzen Gebieten. Toruń 2003
http://www.cuni.cz/UK-374.html; Zugriff am 27.10.2011.