Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Erinnerungen aus meiner Kindheit
Autor/Autorin: Alma W., geb. 1902, Schülerin, Arbeiterin in der Glasindustrie
Quellenbeschreibung: autobiographischer Bericht, maschinenschriftliches Manuskript, 24 Seiten
Entstehungszeit: November 1981 bis 1982
Entstehungszusammenhang: Die Autorin möchte ihren Nachkommen von ihrer Kindheit berichten.
Zeitraum der Schilderung: ca. 1908-1918
Schlagworte: Alltag, Glasherstellung, Schule, Musik, Tod, Beerdigung, Dienstmädchen, Kleidung, Weihnachten, Kindheit, Familie, Armenpflege
Geographische Schlagworte: Nordböhmen, Sudetenland, Isergebirge, Antoniwald, Josefst(h)al
Konkordanz: Antoniwald → Antonínov, heute Ortstal von Josefův Důl, Tschechien
Josefst(h)al → Josefův Důl, Tschechien; Isergebirge → tschech. Jizerské hory, poln. Góry Izerskie
Fundort: Isergebirgs-Museum Neugablonz, Signatur V 1008; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/isergebirgs-museum-neugablonz; https://bkge.de/projekte/projekte/dokumentation-der-heimatsammlungen-in-deutschland/verzeichnis-der-heimatsammlungen-in-deutschland/herkunftsgebiete/boehmen-und-maehren/isergebirgs-museum-neugablonz-2
Editionsmodus: (vollständiges Digitalisat), (vollständiges Transkript)
Inhalt:
Die Autorin erzählt aus ihrer Kindheit, skizziert dabei aber zugleich die Familiengeschichte. Sie gewährt Einblick in das Alltagsleben einer einfachen Perlenbläserfamilie im Isergebirge. Bis zum frühen Tod des Vaters ist es von bescheidenem Wohlstand geprägt, zu dem alle Familienmitglieder, auch die Kinder, durch viel Arbeit beitragen müssen. Der Tod des Vaters verschlechtert die ökonomische Situation.
Die Autorin schildert, wie sehr es das Familienleben und die soziale Stellung der Familie prägte, dass sowohl der Vater als auch die Kinder bei lokalen Festen beziehungsweise im Gottesdienst musizierten. Darüber hinaus beschreibt sie ausführlich die Festtagskleidung und das Weihnachtsfest in der Familie. Ihre einjährige Einstellung als Hausmädchen in Ungarn charakterisiert sie als Gegenwelt zum entbehrungsreichen Leben im Isergebirge.
Einordnung/Kommentar:
Die Autorin konzentriert sich auf ihre Kindheitserinnerungen und den engsten Familienkreis. Eine Einordnung in übergeordnete gesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche oder politische Verhältnisse oder Vergleiche zu den Lebensverhältnissen Anderer vermeidet sie weitgehend. Ihr Bericht erlaubt Einblicke in die Lebenswelt einfacher Arbeiterfamilien an der Basis der sudetendeutschen Glasindustrie. Letztere stellte einen bedeutenden, stark exportorientierten Wirtschaftsfaktor dar. 1930 arbeiteten 41.900 Menschen und damit 2,4 Prozent aller Beschäftigten im Sudetenland in der Glasindustrie, die zu fast 90 Prozent in deutscher Hand lag.1 Die Herstellung der Endprodukte erfolgte nicht vollständig durch die Glashütten selbst, sondern durch ein Verlagssystem. Hierbei statteten sogenannte Verleger Heimarbeiter mit Rohstoffen oder Vorprodukten aus, welche Letztere weiterverarbeiteten. Der Verleger vermarktete die fertigen Produkte anschließend.2
Im Fall der Familie W. lieferte wohl die Glashütte Riedel in Josefsthal3 das Rohmaterial für Perlen, das von den Eltern zu einzelnen Perlen zurechtgefeilt und von den Kindern aufgefädelt wurde. Die Kinder lernten dabei zugleich das Handwerk, das sie als Erwachsene selbst übernehmen sollten, eine regelrechte Ausbildung gab es dafür nicht.4 Die Familie wurde danach bezahlt, welche Menge Perlen ihnen ihr Verleger abnahm. Dieses Vorgehen war in der sudetendeutschen Glasindustrie üblich, bedeutete für die Heimarbeiter aber immer ein Risiko, da sie von der Auftragslage ihres Verlegers ebenso abhängig waren wie von ihrem eigenen Leistungsvermögen. Aus diesem Grund mussten meist alle Familienmitglieder, auch die Kinder, mitarbeiten.5 Dennoch bot die Arbeit im Verlagssystem den Eltern überhaupt erst die Möglichkeit, ohne eigenen Landbesitz eine Familie zu gründen.6 Zu Lebzeiten des Vaters mussten die Kinder zwar auch regelmäßig arbeiten, die Familie konnte sich jedoch ein bescheidenes Haus, einen freien Tag in der Woche, Festtagskleidung, Musikinstrumente und andere Annehmlichkeiten leisten. Der Tod des Vaters bedeutete den Ausfall einer wichtigen Arbeitskraft. Die Familie musste sich stark einschränken, in eine billigere Wohnung umziehen und staatliche Unterstützung wahrnehmen. Dennoch kann die Familie auch zu diesem Zeitpunkt nicht als arm bezeichnet werden. Das Lohnniveau war jedoch insgesamt so niedrig, dass im 19. Jahrhundert viele Glasmacher auswanderten.7 Nicht wenig Familie wurden finanziell dadurch entlastet, dass Angehörige als Hausangestellte in Österreich oder Ungarn arbeiteten. Ungewöhnlich ist in diesem Fall eher, dass die Initiative dazu von der Berichterstatterin, also einem noch minderjährigen Mädchen, ausging.
Der Quelle ist ein kurzer Text mit Korrekturen und Ergänzungen einer Person hinzugefügt würden, die offenbar mit der Verfasserin und ihrem Leben sehr vertraut war. Diese Person hat den Text offenbar auch dem Archiv übergeben, um "einen historische zutreffenden und nachweisbaren Eindruck" zu vermitteln, wie sie anmerkt. Auch in den Erinnerungen selbst finden sich handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen, die eventuell auch von dieser Person stammen.
1 Fleischer 1999, S. 568f.
2 Bettger 1985; Pittrof 2008, S. 60f.
3 Zenkner 1968, S. 132-137.
4 Pittrof 2008, S. 59.
5 Sommer 1997, S. 88-134.
6 Bettger 1985, S. 180f.
7 Pittrof 2008, S. 59.
Literatur:
Bettger 1985: Roland Bettger: Verlagswesen, Handwerk und Heimarbeit. In: Claus Grimm (Hg.): Aufbruch ins Industriezeitalter. Band 2. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns 1750-1850. München 1985, S. 175-183
Fleischer 1999: Manfred Fleischer: Die Wirtschaft im Sudetenland. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. Teil 2. München 1999, S. 552-576
Pittrof 2008: Kurt Pittrof: Böhmisches Glas im Panorama der Jahrhunderte. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. 3. Auflage, München 2008
Sommer 1997: Carmen Sommer: Die Geschichte der Haidaer-Steinschönauer Glasveredelungsindustrie und ihr Strukturwandel nach der Neuansiedlung im Raum Rheinbach: vom Verlags- zum Glaskunsthandwerksbetrieb. Bonn 1997
Zenkner 1968: Karl Zenkner: Die alten Glashütten des Isergebirges. Ein geschichtlicher Überblick nach den Ergebnissen der Forschung namhafter Heimatkundler. Schwäbisch Gmünd 1968