Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Tätigkeitsbericht eines halbjüdischen Pfarrers Juni/Juli 1946
Autor: Geert T. (1909-1983), evangelischer Pastor
Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht/Brief, maschinenschriftliches Manuskript, 51 Seiten
Entstehungszeit: nach 1946
Entstehungsort: nicht bekannt (Westdeutschland)
Zeitraum der Schilderung: 1938-1946
Personen: Otto Dibelius (1880-1967), evangelischer Theologe, 1925-1933, Generalsuperintendent der Kurmark, 1945-1966 Bischof von Berlin-Brandenburg, 1949-1961 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland1; August Winnig (1878-1956), christlich-konservativer SPD-Politiker und Schriftsteller
Schlagworte: Besatzung, Kirche (Organisation), Kirchenkampf, Lebensverhältnisse, Waisenhaus, Vertreibung, Wohnverhältnisse, Zwangsarbeit
Geographische Schlagworte: Jechnitz, Karlsbad, Buchau, Haber, Leitmeritz, Tschechien
Konkordanz: Jechnitz → Jesenice; Karlsbad → Karlovy Vary; Buchau → Bochov; Haber → Habřina, Stadtteil von Úštěk; Leitmeritz → Litoměřice (alle Tschechien)
Fundort: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Signatur Nr. 768 / I; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/deutsches-tagebucharchiv-ev
Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat
Inhalt:
Bei dem Autor handelt es sich um einen "achteljüdischen", rumäniendeutschen evangelischen Pfarrer, der aufgrund seines Engagements für die deutsche Minderheit nicht in Rumänien tätig werden durfte. Als Gegner des Nationalsozialismus versuchte er deshalb während der 1930er Jahre, im Sudetenland eine Anstellung zu erhalten. 1938 übernahm er die Leitung der Jechnitzer Anstalten, eines Komplexes aus Waisenhäusern und einer Geburtshilfestation für ledige Mütter. In seinem Bericht geht er intensiv auf die finanziellen Schwierigkeiten der evangelischen Kirche Böhmens und die daraus für ihn resultierende hohe Arbeitsbelastung ein - neben der Anstaltsleitung fungierte er als Vikar und musste vielfältige seelsorgerische Aufgaben in der gesamten Region übernehmen. Als die Jechnitzer Anstalten nach der Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich geschlossen wurden, übernahm Herr T. unter ähnlichen Bedingungen wie in Jechnitz die Leitung eines Waisenhauses in Haber. Auch dieses Waisenhaus wurde von den nationalsozialistischen Behörden geschlossen. Herr T., als rumänischer Staatsbürger im Deutschen Reich nicht wehrpflichtig, vertrat daraufhin neben seiner Pfarrstelle in Haber die während des Krieges eingezogenen Pfarrer in Karlsbad.2 Die Schwierigkeiten dieser umfangreichen Tätigkeiten und die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Probleme beschreibt der Autor sehr ausführlich. Er endet mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Ausreise seiner eigenen Familie 1945/46.
Einordnung/Kommentar:
Der Bericht von Geert T. gewährt tiefe Einblicke in das Leben der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien. Die prekäre Situation dieser Kirche ergab sich aus der doppelten Minderheitenposition, in der sich die deutschstämmigen evangelischen Christen Tschechiens nach dem Zerfall des Habsburger-Reiches 1918/19 befanden. In der jungen Tschechoslowakei waren über 90 Prozent der Einwohner katholisch. Auch unter den Sudetendeutschen gehörten nur fünf Prozent dem evangelischen Bekenntnis an, sie bildeten also eine Minderheit in der Minderheit.3 Die Kirchenorganisation Österreich-Ungarns wurde in dessen Nachfolgestaaten nicht aufrechterhalten, obwohl sich beispielsweise die evangelischen Kirchen in Böhmen und Mähren an Österreich orientiert hatten. Die tschechischen Protestanten gründeten nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder.4 Die deutschen Protestanten konnten sich aufgrund der politischen Situation nicht den Landeskirchen Österreichs, Bayerns oder Sachsens anschließen, sondern gründeten eine eigene Kirche. Diese verstand sich explizit als Nachfolgeorganisation der bisherigen evangelischen Kirchen Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses und als Kirche aller deutschen evangelischen Glaubensgenossen der Tschechoslowakei.5 Damit stellte sie sich nicht nur landsmannschaftlich, sondern auch theologisch in eine andere Tradition als die Kirche der Böhmischen Brüder. Die Amts- und Kirchensprache war Deutsch.6 Die Pfarrer mussten sich also in einer Diaspora-Situation zurechtfinden und, wie Herr T. es beschreibt, viel reisen, um ihren Aufgaben, insbesondere dem Religionsunterricht, nachzukommen.7
Die finanzielle Situation der Kirche war von Beginn an schlecht. Sie war neben Spenden auf Unterstützung seitens des Gustav-Adolf-Vereins, eines kirchenübergreifenden evangelischen Hilfswerks im deutschsprachigen Raum, angewiesen. Dieser Verein fungierte, wie auch bei Herrn T. deutlich wird, für die recht isolierte Kirche als Verbindungsglied zu den großen Kirchen im Deutschen Reich.8 Von dort, aus Polen und Österreich stammten viele Priester der böhmischen Kirche, denn die Diaspora-Situation hatte zusammen mit den finanziellen Problemen zu einem Priestermangel geführt.9 Herr T. war hier also nicht der einzige Ausländer, zudem hing er der "richtigen" Gesinnung an. Er hatte sich in Rumänien im "Volkstumskampf" exponiert und gibt an, der Einmarsch der Wehrmacht hätte ihn nicht gestört, wären nicht die Nationalsozialisten mit eingerückt.10 Mit dieser deutschnationalen Einstellung war er unter den evangelischen Priestern des Sudetenlandes nicht allein. 57 der 62 evangelischen Pfarrer waren Mitglied der Sudetendeutschen Partei, die sich bis zum "Anschluss" des Sudetenlandes ans Deutsche Reich 1938 immer mehr der NSDAP unterordnete. Zwar galten nur vier Priester als im "Volkstumskampf" engagiert, es konnte jedoch auch keiner gefunden werden, der diesen "Kampf" erschwert haben sollte.11
Diese auch nach 1933 prodeutsche Haltung war unter anderem einer nur oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschuldet, die angesichts der Wirtschaftskrise in der Tschechoslowakei und dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Dritten Reiches zu einem idealisierten Deutschlandbild führte.12 Der "Anschluss" wurde daher auch in Kirchenkreisen begeistert begrüßt - dabei spielte auch eine Rolle, dass viele Protestanten hofften, durch die Angliederung ans weitgehend evangelisch geprägte Deutsche Reich die Marginalisierung als Minderheit in der Minderheit überwinden zu können.13 Die meisten Pfarrer waren wie Herr T. deutschnational orientiert, spezifisch nationalsozialistische Anschauungen wie die Rassentheorie waren ihnen fremd.14 Herrn T.s "achteljüdische" Abstammung wurde daher auch erst nach dem "Anschluss" gegen ihn verwendet.15
Die Eingliederung des Sudetenlandes in Deutsche Reich stellte für die Region einen tiefgreifenden Einschnitt in allen Lebensbereichen dar. Herrn T.s Beschreibung dieses Umbruchs entspricht der Sichtweise vieler Sudetendeutscher: Vor dem Münchner Abkommen herrschte gespannte Erwartung oder sogar eine gewisse Beklommenheit. Alle Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich aber als überflüssig, der Einmarsch der deutschen Truppen verlief friedlich und wurde stürmisch begrüßt. Der Rausch verflog jedoch schnell, als der Alltag zurückkehrte und sich auch die negativen Seiten des Nationalsozialismus zeigten.16
Zu diesen negativen Seiten gehörte auch die repressive Kirchenpolitik. Die böhmische evangelische Kirche besaß nur wenig Vermögen, zu dem neben den Kirchengebäuden, den Pfarrhäusern und acht evangelischen Schulen auch sechs Einrichtungen kirchlicher "Liebeswerke" zählten. Zu letzteren gehörten das Säuglings- und Kinderheim "Heimat für Heimatlose" in Jechnitz, in dem etwa 100 Kinder untergebracht waren, und das Waisenhaus in Haber, die beide in der letzten Zeit ihres Bestehens von Herrn T. geleitet wurden.17 Das Haus in Jechnitz wurde vom "Blauen Kreuz" getragen, einer evangelischen Suchthilfeinstitution.18 Alle diese Einrichtungen fielen dem "Stillhaltekommissar für Organisationen" zum Opfer, einer deutschen Verwaltungsstelle, deren Aufgabe es war, gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und zum Teil auch politische Organisationen aller Art, also auch Sportvereine, Wirtschaftsorganisationen und Wohlfahrtsverbände, "gleichzuschalten" oder aufzulösen, um die einheitliche Ausrichtung des deutschen Volkes auf den Nationalsozialismus zu gewährleisten. Die protestantischen Kirchen galten im Dritten Reich zwar als weniger regimefeindlich als ihr katholisches Pendant, dennoch wurden auch ihre sozialen Einrichtungen aufgelöst.19 Alle Kirchen sollten letztlich ihren rechtlichen Sonderstatus verlieren und nur noch als private Vereine gelten. Die Auflösung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände war ein Schritt in diese Richtung, was auch daran deutlich wird, dass die Einrichtungen wie in Haber oft einem ähnlichen Zweck unter anderer Trägerschaft zugeführt und sogar Teile des Personals übernommen wurden. Lediglich ihr konfessioneller Charakter ging verloren.20
In der evangelischen Kirche des Sudetenlandes entstand trotz aller Beschwernisse keine Widerstandsbewegung, die Pastoren und die Gemeindemitglieder fügten sich vielmehr in die neuen Strukturen ein.21 Auch Herr T. hielt sich offenbar bedeckt. Er profitierte sowohl während des Krieges als auch in der ersten Nachkriegszeit von seiner rumänischen Staatsangehörigkeit, da er nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde und am Kriegsende für die tschechischen Behörden nicht als Deutscher galt. Wie andere evangelische Pfarrer mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft genoss auch er größere Freiheiten als die anderen Deutschen.22 Seine Beschreibung der ausgesprochen schlechten Lebensverhältnisse in dieser Zeit, der Ausschreitungen und der Vertreibungen gleicht vielen anderen Berichten.23 Herr T. war angesichts der fortgesetzten Aussiedlung der Deutschen nicht nur ein Pfarrer ohne Gemeinde, sondern auch ein Pfarrer ohne Kirche - das Vermögen der Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien wurde jetzt vollständig enteignet und der Kirche der Böhmischen Brüder sowie der Tschechoslowakischen Kirche, einer Abspaltung der katholischen Kirche, übertragen.24 Herr T. konnte aber schließlich aufgrund seines Berufs vergleichsweise komfortabel ausreisen, da ihm eine Stelle in einer westdeutschen Landeskirche angeboten wurde, während die des Landes verwiesenen Sudetendeutschen ins Ungewisse transportiert wurden.
1 Scholder 1983.
2 Vgl. Heinke-Probst 2009, S. 184.
3 Heinke-Probst 2009, S. 169; Schulze Wessel 2009, S. XIX; Hölzlwimmer 2009, S. 393.
4 Schulze-Wessel 2002, S. 83f; Otter 1991, S. 51-79.
5 Vgl. Heinke-Probst 2009, S. 165.
6 Heinke-Probst 2009, S. 167.
7 Heinke-Probst 2009, S. 169.
8 Friedrich 2003, S. 56-65; Heinke-Probst 2009, S. 170f.
9 Heinke-Probst 2009, S. 174.
10 Quelle, S. 2.
11 Küpper 2009, S. 329; Heinke-Probst 2009, S. 174; Hölzlwimmer 2009, S. 393.
12 Heinke-Probst 2009, S. 178, 181-184.
13 Schulze Wessel 2009, S. XIX.
14 Heinke-Probst 2009, S. 178.
15 Heinke-Probst 2009, S. 184.
16 Hölzlwimmer 2009, S. 394, 399; Heinke-Probst 2009, S. 184; Gebel 2000, S. 64-80.
17 Heinke-Probst 2009, S. 170f; Bilder-Bote 1939, S. 8.
18 Klement 1990.
19 Häusler 2003.
20 Gebel 2000, S. 119-128; Küpper 2009, S. 333, 339f; Heinke-Probst 2009, S. 184; Schulze-Wessel 2009, S. XIX.
21 Hölzlwimmer 2009, S. 392f, 403; Heinke-Probst 2009, S. 184; Küpper 2009, S. 333.
22 Heinke-Probst 2009, S. 186.
23 Vgl. Staněk 2002; Staněk 2007; Wiedemann 2007; Zimmermann 2001.
24 Heinke-Probst 2009, S. 185; Zückert 2009, S. 530-532; Schulze-Wessel 2002, S. 84.
Literatur:
Bilder-Bote 1939: Bilder-Bote für das evangelische Haus 1/1939
Friedrich 2003: Norbert Friedrich: Der Gustav-Adolf-Verein in der Zeit des Nationalsozialismus - eine Skizze. In: Norbert Friedrich, Traugott Jähnichen (Hg.): Sozialer Protestantismus im Nationalsozialismus. Diakonische und christlich-soziale Verbände unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Münster 2003, S. 55-67
Gebel 2000: Ralf Gebel: "Heim ins Reich!" Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938-1945). München 2000
Häusler 2003: Michael Häusler: Die Gleichschaltung berufsständischer Organisationen im Bereich der evangelischen Wohlfahrtspflege - ein Vergleich. In: Norbert Friedrich, Traugott Jähnichen (Hg.): Sozialer Protestantismus im Nationalsozialismus. Diakonische und christlich-soziale Verbände unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Münster 2003, S. 41-53
Heinke-Probst 2009: Maria Heinke-Probst: Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien. In: Schulze Wessel/Zückert 2009, S. 165-187
Hölzlwimmer 2009: Laura Hölzlwimmer: Kirchliches und religiöses Leben in den an Deutschland angegliederten Gebieten. In: Schulze Wessel/Zückert 2009, S. 383-406
Klement 1990: Heinz Klement: Das Blaue Kreuz in Deutschland. Mosaiksteine aus über 100 Jahren evangelischer Suchtkrankenhilfe. Wuppertal 1990
Küpper 2009: René Küpper: Nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik im Reichsgau Sudetenland. In: Schulze Wessel/Zückert 2009, S. 317-357
Otter 1991: Jiří Otter: Die erste vereinigte Kirche im Herzen Europas. Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder. Prag 1991
Scholder 1983: Klaus Scholder: Otto Dibelius. In: Klaus Scholder, Dieter Kleinmann (Hg.): Protestantische Profile. Lebensbilder aus 5 Jahrhunderten. Königstein/Taunus 1983, S. 324-336
Schulze Wessel 2002: Martin Schulze Wessel: Konfessionelle Konflikte in der Ersten Tschechischen Republik: Zum Problem des Status von Konfessionen im Nationalstaat. In: Hans-Christian Maner, Martin Schulze Wessel (Hg.): Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918-1939. Polen - Tschechoslowakei - Ungarn - Rumänien. Stuttgart 2002, S. 73-101
Schulze Wessel 2009: Martin Schulze Wessel: Religion und Politik in den böhmischen Ländern und Tschechien im 20. Jahrhundert. In: Schulze Wessel/Zückert 2009, S. XI-XXIX
Schulze Wessel/Zückert 2009: Martin Schulze Wessel, Martin Zückert (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert. München 2009
Staněk 2002: Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien 2002
Staněk 2007: Tomáš Staněk: Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945-1948. München 2007
Wiedemann 2007: Andreas Wiedemann: "Komm mit uns das Grenzland aufbauen!" Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007
Zimmermann 2001: Volker Zimmermann: Der "Reichsgau Sudetenland" im letzten Kriegsjahr. In: Jörg K. Hoensch (Hg.): Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815-1989. Beiträge aus den Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. Essen 2001, S. 173-190
Zückert 2009: Martin Zückert: Religion und Kirchen zwischen den Diktaturen (1945-1948). In: Schulze Wessel/Zückert 2009, S. 497-545