Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Unter Kaiser und König und danach, 1912-1959
Autorin: Rose Scheuer-Karpin, geb. 1912 in Freistadt, Ärztin
Quellenbeschreibung: autobiographischer Bericht, maschinenschriftliches Manuskript, 30 Seiten
Entstehungszeit: nach 1987
Zeitraum der Schilderung: 1912-1959
Personen: Prof. Alfred Kohn (1867-1959), Endokrinologe
Schlagworte: Ärztin, Diskriminierung, Emigration, Familie, Holocaust, jüdisches Leben, politische Organisationen, Universität Prag, Studium
Geographische Schlagworte: Tschechoslowakei, Prag, Freistadt
Konkordanz: Freistadt → Fryštát, heute Ortsteil von Karviná, Tschechien
Ostrau → Ostrava, Tschechien
Fundort: Leo Baeck Institute for the study of the history and the culture of German-speaking Jewry, New York; Signatur ME 895 https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/leo-baeck-institute-for-the-study-of-the-history-and-the-culture-of-german-speaking-jewry
Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat [Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York]
Inhalt:
Der Bericht von Frau Scheuer-Karpin ist unzusammenhängend und sprunghaft. Er erzählt in kurzen Episoden den Lebenslauf der späteren Ärztin bis zu ihrer Emigration aus der Tschechoslowakei 1939 nach England und einige Begebenheiten aus der Nachkriegszeit, in der die Berichterstatterin für etwa ein Jahr in die Tschechoslowakei zurückkehrte. Frau Sch-K. skizziert kurz ihre Kindheit in einer armen, im Laufe der Zeit zu Wohlstand gelangenden assimilierten jüdischen Familie in Freistadt, um dann ausführlicher von ihrem Medizinstudium in Prag und ihrer Tätigkeit als Ärztin in Ostrau zu berichten. Ihre Freundschaft zu einem der Begründer der Endokrinologie, Prof. Alfred Kohn, beschreibt sie sehr ausführlich. Sie charakterisiert zahlreiche Personen aus ihrer vielköpfigen Großfamilie und aus ihrem Freundeskreis, von denen die meisten im Holocaust umkamen. Vor diesem Hintergrund schildert sie auch die Entwicklung der Nationalsozialisten bzw. der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei sowie antijüdische Maßnahmen und Erlebnisse.
Einordnung/Kommentar:
Obwohl der Bericht von Frau Scheuer-Karpin sehr lückenhaft ist, gewährt er doch Einblick in ein jüdisches Milieu der östlichen Donaumonarchie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Lebenslauf der Autorin illustriert den in dieser Zeit überaus häufigen Aufstieg ländlicher jüdischer Familien ins Bürgertum.1
Frau Scheuer-Karpin stammt nach ihrer eigenen Aussage aus der "jüdischen Landarmut". Ihre Eltern waren Kleinhändler galizischer Herkunft im Teschener-Gebiet in Österreichisch-Schlesien. Während die Eltern noch mit zahlreichen Geschwistern in großer Armut aufwuchsen, kann die Autorin nur von einem Bruder berichten.2 Die Familie lebte zunächst in wirtschaftlich so beengten Verhältnissen, dass die Mutter zusätzlich in Gasthäusern oder einer Wäscherei arbeiten musste. Mit der Zeit war der Familienbetrieb jedoch wirtschaftlich erfolgreich und die Familie konnte das Haus in Freistadt, in dem sie ihren Laden gemietet hatte, kaufen, abreißen und durch ein neues Geschäfts- und Wohnhaus mit zusätzlichen Mietwohnungen ersetzen. Entscheidend für den gesellschaftlichen Aufstieg war der wirtschaftliche Erfolg, der einherging mit einer kulturellen Orientierung am Bürgertum, die Hochschätzung der Bildung und deutschen Kultur.3 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Eltern bereit waren, nicht nur den Sohn, sondern auch die Tochter auf das Gymnasium im über eine Stunde Fahrzeit entfernten Oderberg/Bohumín zu schicken. Auch das von der Autorin 1930 begonnene Studium der Medizin in Prag und die anschließende, unbesoldete Arbeitsphase dürften die Eltern finanziert haben.
Frau Scheuer-Karpin war offenbar keine praktizierende Jüdin. Dennoch bestand wohl ein Großteil ihres Freundes- und Bekanntenkreises aus Juden, was auch noch in der Zwischenkriegszeit nicht untypisch war.4 Die Autorin gehörte dem jüdisch-zionistisch-sozialistischen Jugendbund Blau-Weiß an, bei dem sie auch ihren späteren Ehemann kennen lernte. Diese Mitgliedschaft schien für sie aber eher Ausdruck ihrer politischen, weniger ihrer religiösen Haltung zu sein.
Über ihr Verhältnis zum tschechoslowakischen Staat äußert sich die Berichterstatterin nicht explizit, scheint diesem gegenüber aber loyal gewesen zu sein. Gleichzeitig fühlte sie sich offenbar wie die meisten tschechischen Juden der deutschen Kultur stark verbunden, stärker als der tschechischen.5 Ihr Studium absolvierte sie daher an der deutschen Karls-Universität zu Prag, obwohl ihr das dort bei Teilen des Lehrkörpers und der Studierendenschaft verbreitete deutschnationale, bisweilen auch antisemitische und nationalsozialistische Gedankengut nicht verborgen blieb.6 Frau Scheuer-Karpin beobachtete derartige Tendenzen offenbar sehr aufmerksam. Der Volkssportbewegung, einer sudetendeutschen, an SA und SS orientierten paramilitärischen Gruppe, die vom tschechischen Staat zerschlagen wurde7, widmet sie ein längere Passage, weil in dieser Bewegung ein ehemaliger Schulfreund tätig war, dem sie an der Prager Universität zufällig begegnete. .Deren Lehrkörper umfasste zahlreiche und bedeutende jüdische Professoren, was nicht erst nach der deutschen Besetzung Prags 1939 zu antisemitischen Zwischenfällen führte8, wie sie auch Frau Scheuer-Karpin beschreibt. Die "Säuberung" des Lehrkörpers im Sinne der Nationalsozialisten setzte bereits nach dem Münchner Abkommen 1938 ein.9 Besonders verdiente Professoren wie der von der Autorin verehrte Prof. Kohn10 wurden jedoch auch während der deutschen Besatzung noch von einzelnen Kollegen unterstützt.
Frau Scheuer-Karpin beschreibt ihr Arbeitsleben als Ärztin sehr detailliert, insbesondere ihre erste vollwertige Arbeitsstelle in der Staatlichen Prosektur in Ostrau. Nach dem Münchner Abkommen vom 29./30. September 193811 wurden dort nach und nach alle jüdischen Ärzte entlassen, am 10. November 1938 auch sie. Sie wertet dies, wohl zu Recht, als vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem "künftige[n] Regime". Die Rückkehr zu ihren Eltern nach Freistadt bleibt ihr verwehrt, da Polen die Schwäche der Tschechoslowakei nutzte und das zwischen den beiden Staaten umstrittene Olsa-Gebiet am 2. Oktober 1938 annektierte. Über Freunde entwickelt die Autorin Kontakte zu einer nicht näher beschriebenen Widerstandsgruppe, die es ihr am Tag des deutschen Einmarsches in die "Resttschechei", dem 14./15. März 193912, ermöglichten, nach Polen und schließlich nach England zu flüchten. So überlebte sie die Verfolgung und Ermordung der tschechischen Juden, die 1938 begannen und ab 1941 mit systematischen Deportationen fortgeführt wurden.
1 Vgl. Lässig 2001, S. 263.
2 Vgl. Klieber 2010, S. 44.
3 Vgl. Klieber 2010, S. 41f, 47; Lässig 2001, S. 264-266; Kaplan 2003, S. 235f, 239, 258-261, 270f, 275.
4 Klieber 2010, S. 47-49; Vgl. Kaplan 2003, S. 262, 332-334.
5 Vgl. Míšková 1999, S. 118.
6 Vgl. Míšková 1999, S. 120, 124; Konrád 2006, S. 149.
7 Hoensch 1992, S. 59, 65.
8 Míšková 1999, S. 119-124; Konrád 2006, S. 153-156.
9 Konrád 2006, S. 147, 152.
10 Vgl. Sch-K. 1959.
11 Vgl. Hoensch 1992, S. 85-98.
12 Vgl. Hoensch 1992, S. 98-110.
Literatur:
Kaplan 2003: Marion Kaplan: Dritter Teil. Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871-1918. In: Dies. (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. München 2003, S. 226-344
Klieber 2010: Rupert Klieber: Jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848-1918. Wien 2010
Konrád 2006: Ota Konrád: Die deutschen Hochschullehrer in Prag vor und nach 1938/39. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 147-160
Lässig 2001: Lässig, Simone: Bildung als kulturelles Kapital? Jüdische Schulprojekte in der Frühphase der Emanzipation. In: Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke, Till van Rhaden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933. Tübingen 2001, S. 263-298
Míšková 1999: Alena Míšková: Die Lage der Juden an der Prager Deutschen Universität. In: Jörg K. Hoensch (Hg.): Judenemanzipation - Antisemitismus - Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den böhmischen Ländern und in der Slowakei. Essen 1999, S. 117-127
Osterloh, Jörg: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945. München 2006
Scheuer-Karpin, Rose: In memoriam: Prof. Alfred Kohn. In: Das Deutsche Gesundheitswesen 14/11 1959, S. 501