Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
"Zwangsarbeit verletzt die Würde eines jeden Menschen"
Autorin: Carolina D.
Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, handschriftliches Manuskript, 54 Seiten, 2 Bilder
Entstehungsort und -zeit: Herbolzheim 2008
Entstehungszusammenhang: Die Autorin möchte nach jahrelangem Schweigen die im Alter wiedergekommene Erinnerung, "wie man unschuldig bestraft wird [für etwas], das andere verbrochen haben", an ihre Nachkommen weitergeben.
Zeitraum der Schilderung: 1940-1948/1960
Schlagworte: Bräuche, Deportation, Diskriminierung, Entschädigung, Familie, Flucht, Hunger, Krankheit, Kriegsgefangene, Misshandlungen, Spätaussiedler, Verbleib der Minderheitenangehörigen nach 1945, Zwangsarbeit
Geographische Schlagworte: Lovrin, Banat, Rumänien; Ciaoviar bei Stalino/Donzek, Ukraine; Klingenhain, heute Ortsteil von Cavertitz, Sachsen; Malching, Tann, Bayern
Konkordanz: Stalino → 1924-1960 Name von Donezk → Донецьк/Донецк, Ukraine
Fundort: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Signatur 1712
Editionsmodus: vollständiges Digitalisat, vollständiges Transkript
Inhalt:
Die Autorin (geb. ca. 1927) erwähnt kurz ihre Kindheit und Jugend im Banat, die mit der Besetzung ihres Heimatortes durch die rumänische und die Rote Armee endete. Frau D. wurde zusammen mit ihrem Vater zur Zwangsarbeit in die Ukraine deportiert, wo sie von Februar 1945 bis Mitte 1947 in verschiedenen Bereichen einer Schamott-Ziegelfabrik arbeiten musste. Die menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen schildert sie ausführlich. Aus gesundheitlichen Gründen wurde sie nach Deutschland, in die Sowjetische Besatzungszone, entlassen. Nach kurzer Arbeit für einen Bauern gelangte sie mit Hilfe eines Onkels zu entfernten Verwandten nach Bayern. Erst 1960 sah sie ihre Eltern, die auf ihre Initiative hin Rumänien verlassen konnten, wieder.
Sprache, Rechtschreibung und Textgestalt weisen auf eine ungeübte Schreiberin hin und unterstreichen, wie wichtig es ihr war, trotzdem in dieser Form über ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu berichten.
Einordnung/Kommentar:
Die Autorin gehört zu denjenigen Vertriebenen, die es lange Zeit nicht vermochten, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Mit vielen teilt sie die Ansicht, dass die Leiden der zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion Deportierten zu wenig gewürdigt würden. Dieser Eindruck wurde durch das Gefühl verstärkt, die Flüchtlinge und Vertriebenen hätten stellvertretend für alle Deutschen die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gesühnt, ohne dass dies von der deutschen Gesellschaft wahrgenommen werde. Ein Teil der Zeitzeugenberichte entstand vor diesem Hintergrund. Ihre Autorinnen und Autoren verfolgten wie Frau D. das Ziel, die Erinnerung an die Behandlung der Betroffenen aufrecht zu erhalten. Oft motivierte sie ein besonderes Ereignis zum Schreiben.1 Frau D. betitelt ihren Bericht mit einer ausgeschnittenen Zeitungsüberschrift. Diese legt nahe, dass eine Rede der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, auf dem Tag der Heimat am 6. September 2008 bzw. ein Bericht darüber Frau D. den Anstoß gab, ihre Erinnerungen niederzuschreiben.2
Frau D. weist darauf hin, wie stark bereits der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 das tägliche Leben der Deutschen im Banat veränderte, insbesondere durch die Einberufungen. Die rumäniendeutschen Männer waren zunächst in der rumänischen Armee wehrpflichtig. Das Deutsche Reich schloss jedoch am 12. Mai 1943 ein Abkommen mit Rumänien, das es "Volksdeutschen" aus Rumänien erlaubte, in die deutsche Wehrmacht einzutreten. Daraufhin dienten tatsächlich über 50.000 Männer in deutschen Uniformen. Viele von ihnen taten dies jedoch nicht freiwillig, sondern wurden als Rekruten eingezogen. Beinahe ein Drittel von ihnen starb während des Krieges.3 Frau D.s Aussage jedoch, alle rumäniendeutschen Männer hätten in der Wehrmacht gedient, und ihre Vermutung, die Soldaten, die sie 1941 auf dem Vormarsch durch das Banat kennengelernt hatte, seien in Stalingrad gefallen, entsprechen nicht den Tatsachen.4
Der Hauptteil der Erinnerungen von Frau D. gilt ihren Erlebnissen in den Jahren 1945 bis 1947. Der Bündniswechsel Rumäniens im August 1944 weg vom bisherigen Verbündeten Deutschland hin zur Sowjetunion gilt bei den meisten Banater Schwaben als Wendepunkt ihrer Geschichte, da sie nun, wie es auch in Frau D.s Bericht anklingt, nicht mehr als gut integrierte Mitbürger, sondern als Angehörige einer feindlichen Nation galten.5
Die Mehrheit der Rumäniendeutschen konnte oder wollte ihre Heimat nicht rechtzeitig vor dem Einmarsch der Roten Armee verlassen. Die Übergriffe, denen viele von ihnen während dieser Zeit ausgesetzt waren, erwähnt Frau D. knapp.6 Ihr Fokus liegt auf den Folgen eines Erlasses der sowjetischen Regierung vom 16. Dezember 1944, welcher vorsah, in den von der Roten Armee eroberten Gebieten alle deutschen Männer zwischen 17 und 45 und alle deutschen Frauen zwischen 18 und 30 Jahren als Arbeitskräfte zum Wiederaufbau in die Sowjetunion zu bringen. Dieses Schicksal traf auch zwischen 67.000 und 89.000 Rumäniendeutsche.7 Allerdings wurden vor allem Frauen deportiert, da die meisten Männer eingezogen bzw. in Gefangenschaft waren. Die anschaulichen Schilderungen Frau D.s von den Verhältnissen, unter denen die Verschleppten leben und arbeiten mussten, sprechen für sich. Sie werden durch viele ähnliche Zeitzeugenberichte bestätigt.8
Die meisten Verschleppten wurden 1950/51 entlassen, die letzten 1955.9 Es war nicht ungewöhnlich, dass die Deportierten nicht in ihre Heimat zurückgebracht wurden, sondern nach Deutschland entlassen wurden - ebenso wie viele Kriegsgefangene wie der Ehemann der Freundin Anna, von der Frau D. berichtet. Auch viele Rumäniendeutsche, die vor der Roten Armee geflüchtet waren, sahen ihre ursprünglichen Wohnorte nicht wieder.10 Auch wenn sie wie Frau D. zunächst noch in ihre Heimat zurückkehren wollten, ließen die Verhältnisse im kommunistischen Rumänien diesen Wunsch verblassen. Für die meisten war es zudem aufgrund der negativen Erfahrungen naheliegend, den Einflussbereich der Sowjetunion zu verlassen. Bevorzugtes Ziel war Westdeutschland, insbesondere Baden-Württemberg. Nicht wenige Donauschwaben zogen aber auch wie Frau D.s Freundin Anna nach Nordamerika weiter.
Die lange Trennung Frau D.s von ihrer Familie war kein Einzelfall, ebenso wenig wie die relativ schnelle Eingewöhnung vieler Flüchtlinge und Vertriebener in ein neues Lebens- und Arbeitsumfeld. Letzteres hing eng damit zusammen, dass ihre Heimat in der von ihnen erinnerten Form in Rumänien nicht mehr existierte und eine Rückkehr deshalb nicht attraktiv erschien. Die Enteignungen im Banat und damit die Zerstörung der dortigen bäuerlichen Arbeits- und Lebensweise, die Frau D. andeutet, waren Teil einer politischen Strategie zur "Ausschaltung feindlicher Elemente", zu denen die Deutschen wegen der Verbindung ihrer Volksgruppe zum nationalsozialistischen Deutschen Reich gezählt wurden, und zum Umbau Rumäniens in eine sozialistische Gesellschaft.11 Die Deutschen wurden ab 1948 zwar schrittweise rehabilitiert, die meisten von ihnen fühlten sich im kommunistischen Rumänien jedoch nicht mehr heimisch.12 Frau D. gelang es, ihre Angehörigen auf dem Wege der Familienzusammenführung durch das Rote Kreuz nach Westdeutschland zu holen. Bis in die 1960er Jahre hinein war dies der einfachste Weg, über den Deutschstämmige nach Westdeutschland ausreisen konnten, dann wurden die Ausreisebestimmungen gelockert. Rumänien verlor so den größten Teil seiner nach Kriegsende verbliebenen deutschen Bevölkerung. 2002 stellte die einst drittgrößte Bevölkerungsgruppe Rumäniens, die in der Zwischenkriegszeit 746.000 Personen umfasst hatte, mit etwa 60.000 Menschen nur noch 0,3 Prozent der Einwohner der Donaurepublik.13
1 Vgl. Hahn, Hahn 2010, v.a. S. 491-583.
2 http://www.bund-der-vertrieben..., Zugriff am 18.12.2013.
3 Traşcă 2006; Beer 2009, S. 289; Kolar 1997, S. 184; Casagrande 2003; Scharr, Gräf 2008, S. 77.
4 Boog 1983, Blatt 3; Boog 1987.
5 Beer 2009, S. 289f, 293f; Schaser, Volkmer 2008, S. 297; Hausleitner 2003, S. 100-103; Heinen 2008; Schödl 2010, S. 129.
6 Vgl. Beer 2009, S. 290-301; Baier 2008, S. 174.
7 Schmidt 2010, S. 13f, 17.
8 Vgl. Beer 2009, S. 293f; Polian 2008, S. 97-105; Schmidt 2010, S. 7f, 17-22; Klein 1998; Senz 1994, S. 137f.
9 Beer 2009, S. 293f; Senz 1994, S. 137f; Karner 1995, S. 25; Schmidt 2010, S. 17.
10 Beer 2009, S. 289; Traşcă 2008, S. 315; Senz 1994, S. 137f.
11 Beer 2009, S. 294-300; Baier 2008, S. 174-180; Schaser, Volkmer 2008, S. 298-301; Klein, Göring 1995, S. 81-91; Jordan, Kahl 2008, S. 73; Senz 1994, S. 138f.
12 Beer 2009, S. 300f; Klein, Göring 1995, S. 83; Senz 1994, S. 139-141.
13 Jordan, Kahl 2008, S. 65, 72f; Vgl. Wolf 2004; Schaser, Volkmer 2008, S. 308f; Toma 1998, S. 55-57; Heinen 2008; Senz 1994, S. 137f, 141; Schödl 2010, S. 130f.
Literatur:
Baier 2008: Hannelore Baier: Die Deutschen in Rumänien in den Jahren 1945 bis 1948. In: Mariana Hausleitner (Hg.): Vom Faschismus zum Stalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1941-1953. München 2008, S. 173-180
Beer 2009: Mathias Beer: Rumänien: Regionale Spezifika des Umgangs mit deutschen Minderheiten am Ende des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa. In: Mathias Beer, Dietrich Beyrau, Cornelia Rauh (Hg.): Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950. Essen 2009, S. 279-303
Boog 1983: Horst Boog (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 4,2. Beiheft. Stuttgart 1983
Boog 1987: Horst Boog (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 4,1. Der Angriff auf die Sowjetunion. Stuttgart 1987
Casagrande 2003: Thomas Casagrande: Die volksdeutsche Waffen-SS Division "Prinz Eugen". Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Frankfurt/Main 2003
Hahn, Hahn 2010: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010
Hausleiter 2003: Mariana Hausleitner: Auf dem Weg zur "Ethnokratie". Rumänien in den Jahren des Zweiten Weltkrieges. In: Christoph Dieckmann u.a. (Hg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 19). Göttingen 2003, S. 78-112
Heinen 2008: Armin Heinen: Überwältigung - Verstrickung - Sprachlosigkeit. Die Stalinisierung Rumäniens, die Geschichte der nationalen Minderheiten 1944-1947 und die Logik der Argumente. In: Mariana Hausleitner (Hg.): Vom Faschismus zum Stalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1941-1953. München 2008, S. 77-90
Jordan, Kahl 2008: Peter Jordan, Thede Kahl: Ethnische Struktur. In: Thede Kahl, Michael Metzeltin, Mihai-Răzvan Ungureanu (Hg.): Rumänien. Raum und Bevölkerung Geschichte und Geschichtsbilder Kultur Gesellschaft und Politik heute Wirtschaft Recht und Verfassung Historische Regionen. 2 Teilbände. 2. Auflage, Wien 2008, S. 63-88
Karner 1995: Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956. Wien, München 1995
Klein 1998: Günter Klein: Im Lichte sowjetischer Quellen. Die Deportation Deutscher aus Rumänien zur Zwangsarbeit in die UdSSR 1945. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Geschichte und Zeitgeschichte 47/1998, S. 153-162
Klein, Göring 1995: Horst G. Klein, Katja Göring: Rumänische Landeskunde. Tübingen 1995
Kolar 1997: Othmar Kolar: Rumänien und seine nationalen Minderheiten 1918 bis heute. Wien 1997
Polian 2008: Pavel Polian: Arbeitseinsatz deutscher Zivilinternierter aus Ungarn und Rumänien in der UdSSR. In: Mariana Hausleitner (Hg.): Vom Faschismus zum Stalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1941-1953. München 2008, S. 91-105
Scharr, Gräf 2008: Kurt Scharr, Rudolf Gräf: Rumänien. Geschichte und Geographie. Wien 2008
Schaser, Volkmer 2008: Petra Schaser, Gerald Volkmer: Rumänien unter kommunistischer Herrschaft. In: Thede Kahl, Michael Metzeltin, Mihai-Răzvan Ungureanu (Hg.): Rumänien. Raum und Bevölkerung Geschichte und Geschichtsbilder Kultur Gesellschaft und Politik heute Wirtschaft Recht und Verfassung Historische Regionen. 2. Auflage, Wien 2008, S. 297-312
Schmidt 2010: Ute Schmidt: Vergessene deutsche Opfer - Die Zivildeportierten in der Sowjetunion. in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 27/2010 - Schwerpunkt: Recht und Ordnung, S. 3-22
Schödl 2010: Günter Schödl: Deutsche aus dem Banat. In: Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln Weimar 2010, S. 128-131
Senz 1994: Ingomar Senz: Die Donauschwaben (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche 5). München 1994
Traşcă 2006: Ottmar Traşcă: Rumäniendeutsche in Wehrmacht und Waffen-SS 1940-1944. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 273-316
Wolf 2004: Josef Wolf: Entwicklung der ethnischen Struktur des Banats 1890-1992 (Atlas Ost- und Südosteuropa 2: Bevölkerung Ungarn/Rumänien/Jugoslawien). Berlin, Stuttgart 2004
http://www.bund-der-vertrieben..., Zugriff am 18.12.2013