Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Ohne Titel
Autor/Autorin: Maria S.
Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, handschriftlich, 17 Seiten, 22 Fotos
Entstehungszeit: nach 1993
Entstehungszusammenhang: nicht bekannt
Entstehungsort: Oberaudorf, Bayern
Zeitraum der Schilderung: 1939-1943
Personen: Franz Karmasin (1901-1970): „Führer“ der deutschen Volksgruppe in der Slowakei, führender Funktionär der Karpatendeutschen Partei, Parlamentsabgeordneter in der Tschechoslowakei (1935-1938) und der Slowakei (1938-1945), Staatssekretär für die Angelegenheiten der deutschen Volksgruppe in der Slowakei (1938-1945)1
Schlagworte: Krieg, Soldatenbetreuung, Rotes Kreuz, Gemeinschaftsarbeit, politische Organisationen
Geographische Schlagworte: Slowakei, Pressburg, Hauerland, St. Georgen bei Pressburg, Tatra Lomnitz (Tatralomnitz), Zipser Neudorf, Hobgarten, Zips
Konkordanz: Pressburg → Bratislava; St. Georgen → Svätý Jur; Tatralomnitz → Tatranská Lomnica; Zipser Neudorf → Spisská Nová Ves; Hobgarten → Chmel´nica
Fundort: Karpatendeutsches Archiv des Karpatendeutschen Kulturwerks, Karlsruhe https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/karpatendeutsches-kulturwerk-slowakei-ev-archiv
Editionsmodus: (vollständiges Digitalisat), (vollständiges Transkript)
Inhalt:
Der Text berichtet über mehrere, nicht unmittelbar zusammenhängende Episoden. Die Autorin beschreibt ihre Tätigkeit als Rot-Kreuz-Helferin bei der Versorgung durchreisender verwundeter deutscher Soldaten am Pressburger Bahnhof 1939 sowie bei der Verabschiedung slowakeideutscher Rekruten 1943. Neben der Schilderung einer privaten Wanderung 1942 geht Frau S. detailliert auf einige Aktivitäten der Karpatendeutschen Partei ein, insbesondere den Bau eines Schulungshauses sowie die Organisation von Weihnachtsmärkten und -paketaktionen. Sie erwähnt den Bau mehrerer Kindergärten und eines Erholungsheimes. Sie selbst nahm an Schulungen durch die Partei teil und war bei Wohltätigkeitsaktionen engagiert. Außerdem reiste sie mit einem Kasperltheater zu verschiedenen, weit auseinanderliegenden Kindergärten im Hauerland und in der Oberzips.
Einordnung/Kommentar:
Die von Frau S. geschilderte Verwundetenbetreuung am Preßburger Bahnhof durch zivile Stellen war üblich, da die entsprechenden Dienststellen der Wehrmacht bereits im Polen-Feldzug die Verwundeten nicht allein versorgen konnten. Sie wurden deshalb durch das Rote Kreuz unterstützt.2 Die von der Autorin bedauerte Einschränkung der Hilfsleistungen dürfte auf die Rationierung von Lebensmitteln zurückzuführen sein, die im Deutschen Reich bereits vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs eingeführt worden war, in der Slowakei jedoch erst während des Krieges.3
Die Autorin schildert das kulturpolitische Engagement der Karpatendeutschen Partei anschaulich. Die Slowakei-Deutschen orientierten sich bis in die Zwischenkriegszeit hinein nicht sehr stark am Deutschen Reich. Sie zeigten aus historischen Gründen vielmehr Sympathien für Ungarn, zu dem ihre Heimat bis 1918 gehört hatte.4 Die in der Slowakei ansässigen Deutschtumsaktivisten hielten es deshalb für notwendig, bei den „Karpatendeutschen“ überhaupt erst ein deutsches Nationalbewusstsein zu wecken.5 Sie gründeten deshalb 1927 die „Karpatendeutsche Volksgemeinschaft“, aus der 1929 die Karpatendeutsche Partei hervorging. Diese verstand sich als „minderheitspolitische Allzweckorganisation“6, die nicht nur die Interessen der Deutschen in der Slowakei im Parlament vertreten, sondern auch das gewünschte gemeinsame Nationalbewusstsein schaffen sollte. Dazu initiierte sie die von der Autorin in zahlreichen Facetten beschriebenen kulturellen und materiellen Hilfsmaßnahmen.7 Die Partei wurde im Vorfeld der Münchner Konferenz am 29. September 1938 verboten, konnte sich aber bereits am 8. Oktober 1938 als „Deutsche Partei“ neu gründen. Da die nun autonome, ab 1939 „unabhängige“ Slowakei ein Satellitenstaat des Deutschen Reiches war, wurden den „Karpartendeutschen“ Autonomierechte eingeräumt, welche die Deutsche Partei zum Ausbau ihrer Strukturen nach dem Vorbild der NSDAP und ihrer Nebenorganisationen sowie zu den von Frau S. geschilderten Aktivitäten nutzte.8
Die Karpatendeutsche beziehungsweise Deutsche Partei arbeitete stark mit der ungleich bedeutenderen Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins zusammen, die sich auf eine zahlen- und bevölkerungsanteilsmäßig weitaus größere Gruppe stützen konnte, und geriet schließlich unter deren Kontrolle.9 Die Partei übernahm zahlreiche Aktionsformen der Sudetendeutschen Partei, beispielsweise den von Frau S. beschriebenen Freiwilligen Arbeitsdienst.10 Mit dessen Hilfe konnten Kultureinrichtungen errichtet werden, die anderweitig nicht realisierbar gewesen wären. Die ebenfalls erwähnten Spenden- und Paketaktionen stellten angesichts der verbreiteten Armut eine willkommene Hilfe im täglichen Leben dar.11 Frau S. Bericht zeigt nicht nur, wie stark sich viele „Karpartendeutsche“ beim Bau von Schulungszentren, bei Weihnachtsmärkten und Paketaktionen für Soldaten einsetzen, er zeigt auch, dass diese Aktionen immer auch eine „volkstumspolitische“ Absicht verfolgten.12
Anders als das Sudetenland wurden die Siedlungsgebiete der Deutschen in der Slowakei aufgrund ihrer geographischen und strategischen Lage vor oder während des Zweiten Weltkriegs nicht ins Deutsche Reich eingegliedert.13 Die Karpatendeutschen blieben Staatsbürger der im März 1939 unabhängig gewordenen Slowakischen Republik und waren deshalb auch dort wehrpflichtig. Sie wurden zum Großteil in einem Infanterie- und einem Artillerie-Bataillon zusammengefasst, die in Kremnica (Kremnitz) und Kežmarok (Käsmark) stationiert waren.14 Die Slowakei kämpfte beim Angriff auf die Sowjetunion 1941 mit einem Kontingent von knapp über 50.000 Mann auf Seiten der Wehrmacht, welches sich aber nur bedingt als zuverlässig erwies.15 Unter diesen Soldaten war wahrscheinlich auch ein Teil derjenigen Rekruten, deren Verabschiedung Frau S. beschreibt. Die Slowakei gestattete es ihren deutschstämmigen Bürgern bis 1944 zwar nicht, ihren Wehrdienst in den deutschen Streitkräften abzuleisten16, erlaubte der Waffen-SS aber bereits im Juli 1940, sie für ihre Einheiten zu werben. Am 20. November 1942 rief „Volksgruppenführer“ Franz Karmasin alle karpatendeutschen Männer im Alter von 17 bis 35 Jahren dazu auf, der Waffen-SS beizutreten, was 8.222 von ihnen taten.17 Die hohen Verluste unter diesen Soldaten und deren Anwerbung mit Hilfe der Karpatendeutschen Partei und durch deren Vorsitzenden Franz Karmasin war für die Autorin offenbar ein heikles Thema, da sie der Beliebtheit der Partei, welche Frau S. wohl auch nach 1945 noch sehr schätzte, schädigten.18 Frau S. bewahrte offensichtlich auch noch lange nach dem Geschehen ein positives Bild der „Deutschtumsorganisation“, in der sie sich einst engagiert hatte. Dies ist bei Aktivisten wie Frau S. häufig zu beobachten19; dieses Bild, insbesondere die Charakterisierung von im „Volkstumskampf“ aktiven Organisationen als „unpolitisch“, hat aber auch Eingang in die Literatur gefunden, ohne dass reflektiert wurde, ob „Volkstumsarbeit“ unter den gegebenen Umständen überhaupt unpolitisch sein konnte.20
1 Schödl 1995, S. 635; Rudolf, Ulreich 1988, S. 152; Jahn 1979, S. 213; Brosz 1992, S. 74.
2 Morgenbrod, Merkenich 2008, S. 245-296; Poguntke 2010, S. 157-159; Biege 2000, S. 100-104.
3 Gries 1991, S. 21-28; Huegel 2003, S. 329f.
4 Tönsmeyer 2006, S. 225f; Lipscher 1979, S. 37; Brosz 1992, S. 45, 105; Schödl 1995, S. 628; Mannová 2000, S. 233, 245.
5 Lempart 1999, S. 663; Tönsmeyer 2006, S. 226; Brosz 1992, S. 43, 47; Schödl 1995, S. 635.
6 Schödl 1995, S. 633; Vgl. Jahn 1979, S. 213.
7 Vgl. Luh 1988, S. 318-322; Brosz 1992, S. 42f, 48, 72-75.
8 Brosz 1992, S. 51, 55, 75-78, 110; Schödl 1995, S. 635, 638.
9 Tönsmeyer 2006, S. 226; Lempart 1999, S. 665; Brosz 1992, S. 75.
10 Vgl. Luh 1988, S. 321-330.
11 Vgl. Lempart 1999, S. 647, 674-675; vgl. auch die Quelle Erinnerungen an Hedwig in diesem Portal.
12 Vgl. Luh 1988, S. 321-330; Balcarová 2009, S. 136f.
13 Tönsmeyer 2006, S. 227.
14 Brosz 1992, S. 77.
15 Hoensch 1992, S. 113.
16 Brosz 1992, S. 58.
17 Brosz 1992, S. 57f; Hoensch 1992, S. 113.
18 Vgl. Brosz 1992, S. 58, 77f.
19 Vgl. Morrisey 2006, S. 353f.
20 Vgl. Brosz1992, S. 42f, 77.
Literatur:
Balcarová 2009: Jitka Balcarová: Die deutschen nationalen Schutzvereine in den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei 1880-1945. Begriffsabgrenzung, Klassifizierung und Periodisierung. In: Peter Haslinger (Hg.): Schutzvereine in Ostmitteleuropa. Vereinswesen, Sprachenkonflikte und Dynamiken nationaler Mobilisierung 1860-1939. Marburg 2009, S. 111-141
Biege 2000: Bernd Biege: Helfer unter Hitler. Das Rote Kreuz im Dritten Reich. Reinbek bei Hamburg 2000
Brosz 1992: Paul Brosz: Das letzte Jahrhundert der Karpatendeutschen in der Slowakei. Stuttgart 1992
Gries 1991: Rainer Gries: Die Rationen der Gesellschaft. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Münster 1991
Hoensch 1992: Jörg K. Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakei. 3., verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1992
Huegel 2003: Arnulf Huegel: Kriegsernährungswirtschaft Deutschlands während des Ersten und Zweiten Weltkrieges im Vergleich. Konstanz 2003
Jahn 1979: Egbert Jahn: Die parteipolitische Vertretung der Deutschen in der Slowakei. In: Karl Bosl (Hg.): Die erste tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. München 1979, S. 203-216
Lempart 1999: Matthias Lempart: Die Karpatendeutschen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. München 1999, S. 643-705
Lipscher 1979: Ladislav Lipscher: Verfassung und politische Verwaltung in der Tschechoslowakei 1918-1939. München 1979
Luh 1988: Andreas Luh: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung. München 1988
Mannová 2000: Elena Mannová: A concise history of Slovakia. Bratislava 2000
Morgenbrod, Merkenich 2008: Birgitt Morgenbrod, Stephanie Merkenich: Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933-1945. Paderborn 2008
Morrisey 2006: Christof Morrisey: Die Karpatendeutschen aus der Slowakei. Kollektive Erinnerung und Integration in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1975. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 353-366
Poguntke 2010: Peter Poguntke: Gleichgeschaltet. Rotkreuzgemeinschaften im NS-Staat. Köln 2010
Rudolf, Ulreich 1988: Rainer Rudolf, Eduard Ulreich: Karpatendeutsches biographisches Lexikon. Stuttgart 1988
Schödl 1995: Günter Schödl: Lange Abschiede: Die Südostdeutschen und ihre Vaterländer (1918-1945). In: Ders. (Hg.): Land an der Donau. Berlin 1995 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 455-649
Tönsmeyer 2006: Tatjana Tönsmeyer: „Das verspätete Erwachen“ – Die Slowakeideutschen 1939-1945. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach, Maike (Hg.): Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 225-234