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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

In Königsberg und Kaliningrad das ganze Leben

Autorin: Gerda P.

Quellenbeschreibung: Autobiographischer Bericht, 10 Seiten, 1 Foto, 1 Faksimile

Entstehungszeit und -zusammenhang: Der Bericht entstand 2003/2004 im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes des Pädagogischen Arbeitskreises Mittel- und Osteuropa (PAMO) Hessen.

Entstehungsort: Königsberg/Kaliningrad

Zeitraum der Schilderung: 1921-1991

Personen: Joachim von Ribbentrop (1893-1946), 1938-1945 Reichsminister des Auswärtigen; Vjačeslav Michailovič Molotov (Вячеслав Михайлович Молотов, 1890-1986), 1930-1941 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, 1939-1949 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, 1953-1956 Außenminister der Sowjetunion; Walter Eckert, Wirtschaftshistoriker, SS-Obersturmführer, 1938-1940 Leiter des Instituts für Ostforschung1; Wilhelm Klumberg (1886-1942), Staats- und Wirtschaftswissenschaftler, 1926-1939 Rektor des Herder-Instituts Riga, 1940-1942 Professor in Königsberg und Leiter des Instituts für Ostforschung2; Otto Lasch (1893-1971), General der Infanterie, 1945 Kommandant der "Festung Königsberg"

Schlagworte: Arbeit, Diskriminierung, Familie, Hunger, Krankheit, Lebensmittelversorgung, medizinische Versorgung, Misshandlungen, Stadtbild, Wohnen, Zerstörungen, Zwangsarbeit

Geographische Schlagworte: Königsberg/Kaliningrad

Konkordanz: Königsberg → Kaliningrad/Калининград, Russische Föderation; Juditten→ Mendelejevo/Менделеево, Stadtteil von Kaliningrad

Fundort: Herder-Institut Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI 140 OME 12; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev

Editionsmodus: [vollständiger Scan]


Inhalt:

Die Autorin berichtet von ihrem Leben als Sekretärin und später Krankenschwester im preußischen Königsberg vor und während des Zweiten Weltkrieges. Sie erlebte die Belagerung und die Kapitulation in der Stadt. Nach der entbehrungsreichen und gefährlichen Nachkriegszeit, in der sie unter anderem für die russischen Behörden arbeitete, gelang es ihr mit gefälschten Papieren, sich eine neue Identität als Buchhalterin aufzubauen. Ihre deutsche Vergangenheit verbarg sie bis nach dem politischen Systemwechsel 1989/90. Erst aufgrund von Begegnungen mit deutschen Touristen in den 1990er Jahren knüpfte sie wieder Kontakte nach Deutschland, auch zu deutschen Freunden aus der Vorkriegszeit, für die sie seit 1945 als vermisst galt.


Einordnung/Kommentar:

Die Autorin war als Sekretärin für das Institut für Osteuropäische Wirtschaft, 1936 in Institut für Ostforschung umbenannt, tätig. Dieses Institut war 1916 als Institut für ostdeutsche Wirtschaft gegründet worden, um den Wiederaufbau der im Ersten Weltkrieg zerstörten Gegenden des südlichen und östlichen Ostpreußen nach modernen wissenschaftlichen Kriterien zu planen. In der Zwischenkriegszeit erarbeiteten seine Mitarbeiter Pläne zur Infrastrukturreform der Krisenprovinz Ostpreußen, welche in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nationalsozialisten nach 1933 einflossen. Zugleich entwickelte sich das Institut zu einer der wichtigsten Einrichtungen der deutschen Ostforschung und beschäftigte sich intensiv mit den östlichen Nachbarländern des Deutschen Reiches, insbesondere mit Russland. Die Einrichtung wurde deshalb 1933 in Institut für osteuropäische Wirtschaft umbenannt und 1940 in zwei Zweige geteilt, das Institut für osteuropäische Wirtschaft und das Institut für Ostforschung, dem die von Frau P. angesprochene Dolmetscherschule angeschlossen war.3 Einige seiner Mitarbeiter waren führend an den Planungen für die Neugestaltung der 1939 eroberten und an Ostpreußen angeschlossenen polnischen Territorien beteiligt.4 Wohl aufgrund dieser Aufgaben galt das Institut offensichtlich als kriegswichtig und durfte seinen Betrieb bis in den Sommer 1944 fortführen. Frau P. irrt sich allerdings in der zeitlichen Zuordnung - Walter Eckert leitete das Institut von 1938 bis 1940, dann löste ihn Wilhelm Klumberg ab, der 1942 verstarb.5

Unklar ist auch die Datierung des Treffens der Außenminister Ribbentrop und Molotov, die Frau P. beschreibt. Ribbentrop übernachtete auf seiner Reise zur Unterzeichnung des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes am 24. August 1939 in Moskau zwar vom 21. auf den 22. August in Königsberg, Molotov traf mit ihm aber erst in Moskau zusammen. Auf einen Besuch Molotovs in Königsberg gibt es keine Hinweise.6

Bei den beiden verheerenden Bombenangriffen auf Königsberg im August 1944 wurden weite Teile der Innenstadt völlig zerstört. Zahlreiche Behörden und Institutionen waren wie das Institut für Ostforschung handlungsunfähig, viele ihrer Mitarbeiter wurden nun für andere kriegswichtige Tätigkeiten eingezogen.7 Krankenschwestern, auch Kinderkrankenschwestern, galten als kriegswichtig. Frau P. dürfte diese Verwendung angesichts ihres einstigen Wunsches, Medizin zu studieren, entgegengekommen sein.

Königsberg wurde im Januar 1945 von russischen Truppen eingeschlossen. Die Stadt wurde zur Festung erklärt und erbittert verteidigt. Als Kommandant Otto Lasch am 9. April 1945 kapitulierte, waren auch einige Stadtteile weitgehend zerstört worden, die die genannten Bombenangriffe überstanden hatten.8 Für die zurückgebliebenen Bewohner der Stadt hatte dies fatale Folgen. Die gesamte Infrastruktur war zerstört, es gab weder Wasser noch Elektrizität, Unterkünfte waren rar und in schlechtem Zustand, die medizinische Versorgung war ebenso schlecht wie die mit Lebensmitteln oder Brennstoffen. Außerdem waren die Königsberger den russischen Soldaten ausgeliefert, die sie ausplünderten, nicht selten aber auch misshandelten, vergewaltigten oder töteten.9 Der von Frau P. geschilderte Hunger- bzw. Todesmarsch, auf den die Königsberger Bevölkerung getrieben wurde, war auch Ausdruck der Unsicherheit der russischen Behörden, was mit der deutschen Bevölkerung geschehen sollte.10 Aufgrund dieser Lebensbedingungen und der Behandlung durch die sowjetischen Behörden kam ein großer Teil der deutschen Bevölkerung des Königsberger Gebietes 1945/46 ums Leben. Hielten sich zum Zeitpunkt der Kapitulation noch etwa 110.000 deutsche Zivilisten in der Stadt auf, so waren es im Sommer 1947 noch 25.000, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass Deutsche auch zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden.11

Frau P. deutet die Gräuel nur an, die sie in dieser Zeit erlebte. Dies ist bei vielen Opfern der Ausschreitungen am Kriegsende zu beobachten und ist Teil einer Bewältigungsstrategie. Frau P. konnte, anders als andere Flüchtlinge und Vertriebene, allerdings nicht wählen, wie sie mit ihren Erinnerungen umgehen sollte, da sie ihre wahre Identität geheim halten musste und daher zum Schweigen verurteilt war.

Unmittelbar nach Kriegsende mussten alle Deutschen für die russische Siegermacht zwangsweise arbeiten - es gab allerdings zunächst auch keine anderen Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.12 Das Schicksal von Frau P. unterscheidet sich hier von dem anderer Deutscher durch ihre Russisch-Kenntnisse, die ihr Vorteile bei der Arbeitszuteilung einbrachten und Kontakte zu Russen ermöglichten. Ihr gelang es auf diese Weise und mit Hilfe ihrer falschen Papiere sehr schnell, sich in die neu entstehende Gesellschaft des Kaliningrader Gebietes zu integrieren. Dies war anderen Deutschen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen möglich, auch wenn es mit der Zeit immer häufiger zu angenehmen Kontakten mit russischen Soldaten und deren Familien kam.13 Die Lebensverhältnisse verbesserten sich nach Kriegsende zwar auch für die Deutschen langsam, sie waren aber dennoch so schlecht und diskriminierend, dass die meisten Deutschen das Königsberger Gebiet verlassen wollten.14 Diese Haltung trug dazu bei, dass die zunächst unschlüssige russische Staatsführung beschloss, die Deutschen auszusiedeln. 1948 wurden die letzten etwa 100.000 Deutschen aus der Stadt und dem Gebiet Königsberg bis auf wenige Verbleibende nach Westen abtransportiert, die Region wurde mit Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion neu besiedelt.15

Der unter sowjetischer Verwaltung stehende Norden Ostpreußens galt zunächst als Sondermilitärbezirk, wurde dann aber am 7. April 1946 der russischen Sowjetrepublik angegliedert. Die Stadt Königsberg und mit ihr der Oblast wurden am 4. Juli 1946 nach Michail Kalinin (1875-1946), dem vier Wochen zuvor verstorbenen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, umbenannt.16Die Region ist noch heute als Oblast Kaliningrad (Калининградская область) Teil der Russischen Föderation, obwohl sie zu dieser keine Landverbindung besitzt. Kaliningrad ist jedoch Sitz der Baltischen Flotte Russlands und deshalb von strategischer Bedeutung. Der Oblast unterlag von 1946 bis 1955 passrechtlichen Sonderregelungen, die nach einer Regelung von 1934 für die gesamte Westgrenze der Sowjetunion galten. Reisen nach Kaliningrad unterlagen Einschränkungen, Menschen mit bestimmten Vorstrafen, Repatriierte oder ehemalige deutsche Kriegsgefangene durften sich dort nicht niederlassen - die von Frau P. beklagte "Abgeschlossenheit".17 Allerdings konnten diese Regelungen nie vollständig umgesetzt werden.18

Ab den 1960er Jahren gehörten auch Kaliningrad und die Seebäder der Bernsteinküste zum offiziellen sowjetischen Tourismusprogramm, die Besucherzahlen stiegen. Westeuropäer konnten Kaliningrad jedoch erst ab 1991 besuchen.19 Die "Heimwehtouristen", die Frau P. so treffend und mit einer Prise Humor beschreibt, konnten anders als in den anderen Vertreibungsgebieten deshalb erst spät ihre alte Heimat aufsuchen. Frau P. berichtet, sie hätte bis dahin "die deutsche Sprache und das Deutsche in mir"20 vergessen und reagierte erschrocken auf den ersten Besuch von Deutschen. Der politische Systemwandel hat das jahrzehntelange Verbergen ihrer deutschen Herkunft und ihre Ängste vor Entdeckung beendet. Ihr erster Besuch in Deutschland führte sie 1993 in die Ostsee-Akademie nach Travemünde.21

1 Camphausen 1990, S. 78, 99; Petersen 2007, S. 117f.

2 Ungern-Sternberg 1955.

3 Burkert 2000, S. 232-292; Jähnig, Boockmann 2001, S. 144-147, 152; Richter 1996.

4 Petersen 2007, S. 76f, 92-94; Meindl 2007, S. 107, 112-116, 181-188, 272-274.

5 Camphausen 1990, S. 78; Ungern-Sternberg 1955, S. 27.

6 Bloch 1992, S. 246, 250; Kley 1996, S. 299, 301; Gause 1971, S. 124, 156.

7 Wörster 1990, S. 119.

8 Wörster 1990, S. 119; Lucas-Busemann 1994, S. 49-62.

9 Brodersen 2008, S. 73-83; Luschnat1996, S. 25-48, 69-104; Wörster 1990, S. 127-130; Kibelka 1997, S. 38-44.

10 Vgl. Luschnat 1996, S. 35-42; Hoppe 2000, S. 28, 33; Kibelka 1997, S. 152.

11 Wörster 1990, S. 129; Fisch, Klemenseva 1995, S. 396-400; Kibelka 1997, S. 29, 38-44.

12 Kibelka 1997, S. 41-44; Luschnat 1996, S. 92-100.

13 Vgl. Luschnat 1996, S. 189-200; Gafert 2011, S. 24.

14 Kibelka 1997, S. 44, 218-253; Luschnat 1996, S. 69-200; Gafert 2011, S. 7; Wörster 1990, S. 129.

15 Brodersen 2008, S. 75-81; Gafert 2011, S. 8-25; Hoppe 2008, S. 596f; Wörster 1990, S. 140.

16 Brodersen 2008, S. 59-72; Hoppe 2000, S. 27.

17 Quelle, S. 9.

18 Brodersen 2008, S. 26-28.

19 Brodersen 2008a, S. 31, 211f; Brodersen 2008b, S. 624f; Kibelka 1997, S. 259.

20 Quelle, S. 9.

21 http://www.ostseeakademie.de/; Zugriff am 14.11.2012


Literatur:

Bloch 1992: Michael Bloch: Ribbentrop. London 1992

Brodersen 2008a: Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Göttingen 2008

Brodersen 2008b: Per Brodersen: "Viele schöne Orte und Gebäude" - Kaliningrad als Exkursions- und Reiseziel 1950-1971.In: Bernhart Jähnig (Hg.): 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit. Marburg 2008, S. 621-636

Burkert 2000: Martin Burkert: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich. Teil 1. Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939. Wiesbaden 2000

Camphausen 1990: Gabriele Camphausen: Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933-1945. Bern 1990

Fisch, Klemenseva 1995: Bernhard Fisch, Marina Klemenseva: Zum Schicksal der Deutschen in Königsberg 1945-1948 (im Spiegel bisher unbekannter sowjetischer Quellen). In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 44/1995, S. 391-400

Gafert 2011: Bärbel Gafert: Am Ende von Flucht und Massenvertreibung, Teil II: Die "Sondertransporte" aus dem Königsberger/Kaliningrader Gebiet 1947/48 in die SBZ. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 29/2011 - Schwerpunkt: Grenzen des Sozialismus, S. 4-25

Gause 1971: Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. III. Band: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang Königsbergs. Köln 1971

Hoppe 2000: Bert Hoppe: Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946-1970. München 2000

Hoppe 2008: Bert Hoppe: Königsberg/Kaliningrad im 20. Jahrhundert - Abbruch oder Kontinuität? In: Bernhart Jähnig (Hg.): 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit. Marburg 2008, S. 587-600

Jähnig, Boockmann 2001: Bernhart Jähnig, Hartmut Boockmann (Hg.): 450 Jahre Universität Königsberg. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Preußenlandes. Marburg 2001

Kibelka 1997: Ruth Kibelka: Die deutsche Bevölkerung zwischen Anpassung und Ausweisung nördlich und südlich der Memel (1945 - 1948). Berlin 1997

Kley 1996: Stefan Kley: Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Paderborn, München, Wien, Zürich 1996

Lucas-Busemann 1994: Erhard Lucas-Busemann: So fielen Königsberg und Breslau. Nachdenken über eine Katastrophe ein halbes Jahrhundert danach. Berlin 1994

Luschnat 1996: Gerhild Luschnat: Die Lage der Deutschen im Königsberger Gebiet 1945-1948. Frankfurt/Main, Berlin 1996

Meindl 2007: Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch - eine politische Biographie. Osnabrück 2007

Petersen 2007: Hans-Christian Petersen: Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979). Osnabrück 2007

Richter 1996: Friedrich Richter: Die Wirtschaftswissenschaften an der Albertus-Universität zu Königsberg 1900-1945. Einige Elemente ihrer Entwicklung. In: Hans Rothe, Silke Spieler (Hg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg. Höhepunkte und Bedeutung. Vorträge aus Anlaß der 450. Wiederkehr ihrer Gründung. Bonn 1996, S. 95-122

Schmidt 2010: Ute Schmidt: Vergessene deutsche Opfer - Die Zivildeportierten in der Sowjetunion. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 27/2010, S. 3-22

Ungern-Sternberg 1956: Walther Freiherr von Ungern-Sternberg: Professor Dr. Wilhelm Klumberg in Memoriam. In: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 6/1955, S. 5-28

Wörster 1990: Peter Wörster: Die Zeit von 1944/45 bis zur Gegenwart. In: Gerhard von Glinski, Peter Wörster: Königsberg. Die ostpreußische Hauptstadt in Geschichte und Gegenwart. Bad Münstereifel 1990, S. 115-156