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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Mein Lebenslauf! „Tagebuch“; 1945 - 1948!

Erläuterungen zu meinem "Tagebuch" von 1945 - 1948!

Autor/Autorin: Toni W., geb. 17.07.1914, Krankenschwester

Quellenbeschreibung: autobiographischer Bericht, Tagebuch, maschinenschriftliches Manuskript, 37 Blatt

Entstehungszeit: 1945-48, 1979, 1981

Entstehungszusammenhang: Die Autorin möchte ihr Tagebuch der Nachwelt "als Lehre" zur Verfügung stellen.

Entstehungsorte: Königsberg/Kaliningrad, Litauen, Hamburg

Zeitraum der Schilderung: 1940-1948

Personen: -

Schlagworte: Rotes Kreuz, Familie, Flucht/Evakuierung im Zweiten Weltkrieg, Hunger, Lebensmittelversorgung, medizinische Versorgung, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Wohnverhältnisse, Zwangsarbeit

Geographische Schlagworte: Ostpreußen, Königsberg, Litauen

Konkordanz: Königsberg → Kaliningrad; Kaukehmen (1938: Kuckerneese) → russ. Jasnoje, lit. Kaukiemis

Fundort: Kulturzentrum Ostpreußen Ellingen, Signatur K 4729 III 59; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/kulturzentrum-ostpreussen

Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Die Autorin schildert einleitend kurz ihre familiäre Herkunft und ihre Erlebnisse als Schwester des Deutschen Roten Kreuzes im Zweiten Weltkrieg. Dann beschreibt sie ihr Leben vom ersten russischen Angriff auf Ostpreußen im Oktober 1944 bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im August 1948. Sie erlebt die Kapitulation Königsbergs und die Ausschreitungen russischer Soldaten. Sehr detailliert berichtet sie über die Notzeit unter russischer Besatzung, während derer sie mehrere Angehörige und Bekannte aufgrund der schlechten Lebensverhältnisse oder gewaltsamer Übergriffe verliert. Sie wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, schlägt sich aber illegal nach Litauen durch, wo sie unter besseren Lebensbedingungen Geld verdienen kann. Im Sommer 1948 gelingt es ihr schließlich im Rahmen der Ausweisung aller Deutschen aus dem Oblast Kaliningrad, zu ihrem Mann nach Norddeutschland auszureisen.


Einordnung/Kommentar:

Frau W.s Tagebuch beschreibt in ihrem Tagebuch und in den später angefertigten Erläuterungen viele Facetten der Erfahrungen von Deutschen im nördlichen Ostpreußen vom Kriegsende bis zur Ausweisung in einer sehr nüchternen und sachlichen Sprache. Die Autorin macht meist nicht nur Andeutungen, sondern nennt Übergriffe, unter den sie zu leiden hatte oder deren Zeugin sie wurde, beim Namen. Dies gilt auch für Vergewaltigungen, die in anderen Berichten oft nur umschrieben werden. Sie beschränkt ihre Notizen weitgehend auf Selbsterlebtes und verzichtet darauf, Gerüchte über Gräuel wiederzugeben.

Die Autorin erlebte im Oktober 1944 erstmals massive Kriegseinwirkungen, als sie aufgrund einer sowjetischen Offensive das Schuhgeschäft ihrer Schwiegermutter in Kuckerneese im äußersten Norden Ostpreußens verlassen musste und sich in der leerstehenden Bäckerei einer ihrer Schwestern in Königsberg einquartierte. Die als kriegswichtig geltende Ware des Schuhgeschäfts konnte sie auf einem Wehrmachts-LKW mitnehmen, was zeigt, dass die deutschen Behörden südlich der Memel durchaus noch handlungsfähig waren.1 Die Autorin bewohnte die Bäckerei mit einer Schwester, ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter, während die Besitzerin als junge Mutter mit kleinen Kindern bereits evakuiert worden war. Dies war kein Einzelfall, denn die Behörden förderten die Ausreise von nicht kriegswichtigen Zivilisten, so dass die Bevölkerung Ostpreußens zwischen März 1944 und dem Jahresende von etwa 2,4 Millionen Menschen auf 1,75 Millionen zurückging.2 Für die Autorin selbst bestand zwischen Oktober 1944 und April 1945 jedoch offenbar keine Möglichkeit, die Provinz zu verlassen - sie führt dies darauf zurück, dass sie keine Kinder hatte, die in Sicherheit gebracht werden mussten.

Vom Kriegswinter und von der Belagerung Königsbergs ab dem 31. Januar 1945 berichtet sie nicht, ihre Erzählung setzt erst mit der Kapitulation der "Festung" am 9. April 19453 und den ersten Übergriffen durch Angehörige der Roten Armee wieder ein. Die folgende Zeit beschreibt sie sehr detailliert, aber meist sachlich. Nach der Einnahme der völlig zerstörten Stadt wurden deren Einwohner auf offenbar unvorbereitete Märsche durch die Provinz geschickt und mussten für die Besatzungstruppen Zwangsarbeit leisten. Schließlich wurden sie zeitweise in Lagern untergebracht, zeitweise waren sie auf sich selbst gestellt.4 Außer gewalttätigen Übergriffen, Vergewaltigungen und der völligen Ausplünderung drohten Deportation, Obdachlosigkeit, Verhungern, Krankheit und Erschöpfung, die wenigen in Königsberg noch vorhandenen Wohnungen konnten erst 1946 wieder mit Strom und fließendem Wasser versorgt werden. Die Lebensumstände waren derart schlecht, dass sehr viele Menschen die Strapazen nicht überlebten.5 Die Bevölkerungszahl der einstigen 370.000-Einwohner-Stadt, in der sich zum Zeitpunkt der Kapitulation noch 110.000 Zivilisten aufgehalten haben sollen, sank von 50.000 im Herbst 1945 auf 32.000 im Frühjahr 1946.6 Unter den seit dem Kriegsende ums Leben Gekommenen waren auch die Mutter, die Schwiegermutter und die Schwester der Autorin.

Frau W. war offenbar bekannt, dass die sowjetische Truppenführung Befehle erlassen hatte, die Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung und explizit auch Vergewaltigungen verboten7, sie schildert aber auch, dass diese Verbote nicht selten wirkungslos waren.8 Andererseits weiß sie, wie auch andere Flüchtlinge9, von Offizieren zu berichten, die sie schützten oder ihr halfen. Ihrem Bericht ist zu entnehmen, dass physische Übergriffe mit der Zeit weniger wurden.10 Auch die schrittweise Verbesserung der Lebensverhältnisse11 lässt sich an ihrem Bericht gut ablesen.

Die Sowjetunion betrachtete den nördlichen Teil Ostpreußens als ihr Territorium, das sie nach ihren Vorstellungen gestalten wollte. Die verbliebenen Bewohner wurden daher anders als selbst im benachbarten, jetzt zur Sowjetrepublik Litauen gehörenden Memelland, nicht als Bürger der Region angesehen, sondern als Internierte ohne klaren Rechtsstatus, über deren Schicksal noch nicht entschieden war. Der Entschluss, die Deutschen auszusiedeln, fiel letztlich erst 1947.12 Sie hatten sich, wie aus dem Bericht von Frau W. deutlich wird, der sowjetischen Verwaltung zur Verfügung zu halten und mussten für die Besatzungsmacht arbeiten.13 Der russischen Verwaltung gelang es aber offenbar nicht, die Menschen effektiv zu kontrollieren. Sie konnten sich daher, wie auch Frau W. schildert, immer wieder Freiräume schaffen, die sie beispielweise dazu nutzten, auf dem ab 1946 wieder funktionierenden Markt zu handeln.14 Arbeitszwang bestand bis zum Sommer 1946, dann wurden weniger deutsche Arbeitskräfte gebraucht, weil immer mehr Kolonisten eintrafen. Auch dies eröffnete den Deutschen die genannten Freiräume, zugleich wurden sie aber sich selbst überlassen und mussten allein für ihre Versorgung aufkommen.15

Frau W.s Bericht zeigt deutlich ihre Anstrengungen, unter diesen inhumanen Lebensbedingungen ein einigermaßen normales und menschenwürdiges Leben zu führen. Dabei bildeten die Briefe, die sie von ihrer Schwester oder ihrem Mann aus Deutschland erhielt, offenbar ein wichtiges stabilisierendes Element. Ihre Bemühungen blieben jedoch angesichts der katastrophalen Versorgungs-, Sicherheits- und Rechtslage oftmals erfolglos und ständig bedroht.

In Litauen wurden die wirtschaftlichen Strukturen am Ende des Krieges anders als in Ostpreußen nicht zerstört. Hier durften die Bauern ihre Höfe einige Jahre lang weiter bewirtschaften. Die Versorgungslage war daher in Litauen bedeutend besser als im nördlichen Ostpreußen, weshalb viele Deutsche trotz ihrer Arbeitspflicht in Ostpreußen versuchten, nach Litauen zu gelangen.16 Frau W. beschreibt, wie schwierig es war, überhaupt nach Litauen zu kommen. Die Schilderung ihres Lebens als Hilfskraft in Litauen zeigt aber auch, dass die Lebensumstände dort wesentlich besser waren als in Ostpreußen.

Die Ausweisung der Deutschen aus der Oblast Kaliningrad, wie das nördliche Ostpreußen seit Juli 194617 hieß, begann 1947 und war 1948 bereits weitgehend abgeschlossen. 1949 und 1950 wurden nur noch einige Transporte mit bisher zurückgehaltenen Spezialisten sowie einige Einzelreisende abgefertigt. 104.575 Personen wurden aus Kaliningrad ausgesiedelt, das nun keine nennenswerte deutsche Bevölkerung mehr besaß.18 Frau W. gelangte also mit einem der letzten planmäßigen Transporte nach Deutschland.


1 Vgl. dagegen Schwartz 2008, S. 580-582.

2 Meindl 2007, S. 434f; Kabath, Forstmeier 1963, S. 279f.

3 Meindl 2007, S. 439, 453.

4 Vgl. Schwartz 2008, S. 596f; Luschnat 1996, S. 27-48; Kibelka 1997b, S. 13-15; Glinski, Wörster 1990, S. 127.

5 Vgl. Kibelka 1997a, S. 38-44; Kossert 2005, S. 334-337; Scherstjanoj 2004, S. 210-212, 222-225; Merridale 2008, S. 329-357; Satjukow 2008, S. 36-46; Brodersen 2008, S. 74f; Fisch, Klemenseva 1995, S. 396-398; Zeidler 2008, S. 715-725; Naimark 1997, S. 96-99; Schwartz 2008, S. 584f, 590-600; Schmidt 2010, S. 9, 18-22; Luschnat 1996, S. 69-126; Glinski, Wörster 1990, S. 127-130.

6 Schwartz 2008, S. 596; Glinski, Wörster 1990, S. 126, 129.

7 Senjavskaja 2004, S. 258-260, 265; Satjukow 2008, S. 40, 46; Zeidler 2008, S. 724-734; Merridale 2008, S. 339-350.

8 Senjavskaja 2004, S. 262; Satjukow 2008, S. 40f; Zeidler 2008, S. 724f, 730; Naimark 1997, S. 96.

9 Naimark 1997, S. 98; Satjukow 2008, S. 46-48; Luschnat 1996, S. 189-200.

10 Vgl. Schwartz 2008, S. 595f; Zeidler 2008, S. 715f.

11 Vgl. Schwartz 2008, S. 596f.

12 Kibelka 1997a, S. 39, 152; Hoppe 2000, S. 28-33.

13 Kibelka 1997a, S. 29, 41-43, 144; Luschnat 1996, S. 92.

14 Vgl. Schwartz 2008, S. 598f.

15 Luschnat 1996, S. 92-100.

16 Kibelka 1997a, S. 41-44; Kossert 2005, S. 336.

17 Hoppe 2000, S. 27.

18 Kibelka 1997a, S. 221, 231f; Kossert 2005, S. 337f; Schwartz 2008, S. 600, 644-646; Brodersen 2008, S. 76-82; Gafert 2011.

Literatur:

Brodersen 2008: Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Göttingen 2008

Fisch, Klemenseva 1995: Bernhard Fisch, Marina Klemenseva: Zum Schicksal der Deutschen in Königsberg 1945-1948 (im Spiegel bisher unbekannter sowjetischer Quellen). In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 1995, S. 391-400

Gafert 2011: Bärbel Gafert: Am Ende von Flucht und Massenvertreibung. Teil II: Die "Sondertransporte" aus dem Königsberger/Kaliningrader Gebiet 1947/48 in die SBZ. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 29/2011, S. 4-25

Glinski, Wörster 1990: Gerhard von Glinski, Peter Wörster: Königsberg. Die ostpreußische Hauptstadt in Geschichte und Gegenwart. Bad Münstereifel 1990

Hoppe 2000: Bert Hoppe: Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946-1970. München 2000

Kabath, Forstmeier 1963: Rudolf Kabath, Friedrich Forstmeier: Die Rolle der Seebrückenköpfe beim Kampf um Ostpreußen 1944-1945. In: Hans Meier-Welcker (Hg.): Abwehrkämpfe am Nordflügel der Ostfront 1944-1945. Stuttgart 1963, S. 215-451

Kibelka 1997a: Ruth Kibelka: Die deutsche Bevölkerung zwischen Anpassung und Ausweisung nördlich und südlich der Memel (1945-1948). Berlin 1997

Kibelka 1997b: Ruth Kibelka: Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel. 2., erweiterte Auflage, Berlin 1997

Kossert 2005: Andreas Kossert. Ostpreußen. Geschichte und Mythos; Berlin 2005

Luschnat 1996: Gerhild Luschnat: Die Lage der Deutschen im Königsberger Gebiet 1945-1948. Frankfurt/Main u.a. 1996

Meindl 2007: Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch - eine politische Biographie. Osnabrück 2007

Merridale 2008: Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Frankfurt/Main 2008

Naimark 1997: Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. Berlin 1997

Satjukow 2008: Silke Satjukow: Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945-1994. Göttingen 2008

Scherstjanoj 2004: Elke Scherstjanoj: "Wir sind in der Höhle der Bestie." Die Briefkommunikation von Rotarmisten mit der Heimat über ihre Erlebnisse in Deutschland. In: Dies. (Hg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. München 2004, S. 194-230

Schmidt 2010: Ute Schmidt: Vergessene deutsche Opfer - Die Zivildeportierten in der Sowjetunion. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 27/2010, S. 3-22

Schwartz 2008: Michael Schwartz: III. Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Senjavskaja 2004: Elena S. Senjavskaja: Deutschland und die Deutschen in den Augen sowjetischer Soldaten und Offiziere des Großen Vaterländischen Krieges. In: Elke Scherstjanoj (Hg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. München 2004, S. 247-266

Zeidler 2008: Manfred Zeidler: Die Rote Arme auf deutschem Boden. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Erster Halbband. Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht. München 2008, S. 681-775