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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Fragebogen [Posen, 1937-1945]

Autor: Sigismund B., Lehrer

Quellenbeschreibung: maschinenschriftlich ausgefüllter Fragebogen, 3 Blatt (6 Seiten)

Entstehungszeit: 1960

Entstehungszusammenhang: Paul Jendrike (1888-1966), von 1922 bis 1939 Vorsitzender des Landesverbandes deutscher Lehrer und Lehrerinnen in Polen, versandte zwischen 1949 und 1966 Fragebögen an die ehemaligen Mitglieder seines Verbandes, in denen er sie nach ihrem persönlichen Werdegang, der Geschichte ihrer Schulen und ihrer Schulorte, deren Stellung im Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten innerhalb Polens, dem Grad der Organisiertheit der deutschen Bevölkerungsgruppe und deren politischer Haltung befragte sowie nach der Unterrichtssituation, der Unterrichtssprache, der sozialen Zusammensetzung und dem schulischen Werdegang der Schüler. Sigismund B. beantwortete einen dieser Fragebögen.

Entstehungsort: Einbeck, Niedersachsen

Zeitraum der Schilderung: 1937-1945

Schlagworte: Auswanderung, Gebietsabtretungen an Polen 1918/20, Gründung der Republik Polen 1918, Lehrer, Minderheitenpolitik, Schule, Schulpolitik, Sprachenpolitik, Unterstützung aus Deutschland

Geographische Schlagworte: Minutsdorf

Konkordanz: Minutsdorf →Dziemionna, Ortsteil von Nowa Wieś Wielka (Groß Neudorf), Polen

Fundort: Herder-Institut Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI 100 Jendrike 5, Posen A-D, Blatt 64-66, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev; Depositum der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.

Editionsmodus: [vollständiges Digitalisat]


Inhalt:

Der Autor beschreibt das Dorf, in dem er von 1937 bis 1945 Lehrer war, sowie in groben Zügen dessen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Er gibt einen Überblick über die Sozial- und Wirtschaftsstruktur und die Verhältnisse zwischen den Ethnien. Die meisten Informationen betreffen jedoch die Schule und die Schüler während seiner Dienstjahre.


Einordnung/Kommentar:

Minutsdorf, etwa 20 Kilometer südlich von Bromberg/Bydgoszcz gelegen, gehörte vom Wiener Kongress 1815 bis zur Gründung der Republik Polen 1918/20 zu Preußen. Die Bevölkerung der Region war gemischtsprachig, 1905 sprachen etwa 60 Prozent der Einwohner des Landkreises Bromberg Deutsch. Als ehemalige Bürger der Provinzen Posen und Westpreußen, deren Familien in verschiedenen Wellen seit dem Mittelalter eingewandert waren, gehörten sie zur größten deutschen Bevölkerungsgruppe in Polen zwischen den Weltkriegen.1 Durch die Angliederung der Region an die neu gegründete Republik Polen änderte sich jedoch die Zusammensetzung der Bevölkerung. Viele Deutsche wanderten ins Deutsche Reich ab, ihre Zahl sank in der ehemaligen Provinz Posen und in Pommerellen von etwa 1,1 Millionen im Jahr 1910 auf 341.500 sechzehn Jahre später. Bei dieser Wanderungsbewegung ist ein starkes Stadt-Land-Gefälle feststellbar. Während etwa 85 Prozent der deutschsprachigen Stadtbevölkerung abwanderten, blieb ungefähr die Hälfte der deutschsprachigen Landbevölkerung in ihren Heimatorten. In zahlreichen Landgemeinden bildeten sie immer noch die Bevölkerungsmehrheit.2 Dies lässt sich an Minutsdorf bestätigen. Dort war, wie in vielen ländlichen Gemeinden des östlichen Preußen, durch verschiedene Meliorationsarbeiten und Modernisierungen der Wohlstand der bäuerlichen Bevölkerung in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gestiegen.3 Die deutschen Bauern wollten die Früchte ihrer Arbeit nicht aufgeben und blieben trotz des Wechsels der Staatszugehörigkeit auch nach der Gründung der Republik Polen auf ihren Höfen. Dies wurde ihnen durch kulturelle und verwaltungstechnische Kontinuitäten erleichtert.4

In die Gemeinde wanderten nur wenige Polen zu, die zudem nicht der gesellschaftlichen Führungsschicht angehörten. In den lokalen politischen Gremien stellten weiterhin die Deutschen die Mehrheit. Die deutschen Kultur- und Wirtschaftsorganisationen wie die Chöre oder die Genossenschaften blieben bestehen. In der örtlichen Schule wurde weiterhin in deutscher Sprache unterrichtet. Letzteres war von großer Bedeutung, da deutschsprachige Schulen und ihre Lehrer als Garanten dafür galten, dass die Kinder ihre Nationalität bewahren konnten.5 Eine Schule mit ganz oder überwiegend deutschsprachigem Unterricht war vielen polnischen Staatsbürgern deutscher Nationalität so wichtig, dass sie großen Aufwand betrieben, nicht selten Privatschulen finanzierten oder ihren Kindern weite Schulwege und andere Unannehmlichkeiten zumuteten, um ihnen den Besuch einer deutschsprachigen Schule zu ermöglichen.6 Den Lehrern kam in dieser Konstellation daher eine besondere Bedeutung zu. Der polnische Staat übernahm zahlreiche Pädagogen aus preußischen Diensten, die deutsche Volksgruppe initiierte aber auch eine eigene Lehrerausbildung. Auch der von Herrn B. angedeutete rege Austausch zwischen deutschsprachigen Lehrkräften wurde von deutschen Organisationen unterstützt, um die Lehrer in ihrer Funktion als Multiplikatoren deutscher Kultur zu bestärken.7 Dieses Engagement wurde den Lehrern nicht selten seitens der Schulbehörden zum Vorwurf gemacht.8

Die Schule und insbesondere die Unterrichtssprache stand im deutsch-polnischen Grenzgebiet bereits seit dem späten 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Bestrebung der preußischen und ab 1918 der polnischen Regierung, die Bevölkerungsteile, deren Muttersprache nicht die Staatssprache war, an die jeweilige Nation zu binden.9 Im Posener Raum war Deutsch 1873 zur Unterrichtssprache erklärt worden, Polnisch wurde nur noch als Fremdsprache unterrichtet. Lediglich im Religionsunterricht und im Fach Kirchengesang durfte in polnischer Sprache gelehrt und gelernt werden. Als auch diese Ausnahmen 1901 und 1906 abgeschafft wurden, kam es in beiden Jahren zu Schulstreiks, während derer sich die polnischsprachigen Kinder weigerten, Deutsch zu sprechen. Zahlreiche Eltern, die als Drahtzieher hinter den Streiks gesehen wurden, wurden daraufhin zu harten Strafen verurteilt. Diese rigide Politik war jedoch nicht erfolgreich.10

Der polnische Staat versuchte nach 1918 ebenfalls, die Angehörigen der in Polen lebenden Minderheiten - nicht nur die Deutschen - durch seine Schulpolitik in den jungen Staat und möglichst auch in die polnische Nation zu integrieren.11 Dabei ging er weniger harsch vor als Preußen einige Jahre zuvor, auch aufgrund von international verankerten Minderheitenschutzgesetzen. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten diese den 1918 neu gegründeten Staaten nicht zuletzt angesichts des oft diskriminierenden Umgangs mit Minderheiten in der Vorkriegszeit mit auf den Weg gegeben. In der Republik Polen existierte ein in der Verfassung verankertes und durch internationale Verträge abgesichertes Minderheitenschulwesen.12 Dieses war trotz aller gesetzlichen Regelungen nicht selten Ziel staatlicher Repressionen, wobei wiederum die Unterrichtssprache im Mittelpunkt stand. Wie restriktiv sich die Schulbehörden gegenüber den deutschen Schulen verhielten, variierte von Region zu Region stark. In Territorien wie Ostoberschlesien oder Pommerellen, welche das Deutsche Reich im Falle einer Grenzrevision zurückverlangen wollte, gingen die polnischen Behörden rigider vor als im Posener Raum, der trotz einer starken deutschen Minderheit nicht zu den bevorzugten Zielen der deutschen Revisionspolitik zählte.13

In Minutsdorf hatte wie in vielen Orten die polnische Verwaltung die Volksschule aus preußischer Zeit übernommen und sie zu einer polnischen staatlichen Schule mit deutscher Unterrichtssprache gemacht. Die Zahl derartiger Schulen ging infolge der polnischen Schulpolitik in den 1920er und 1930er Jahren immer mehr zurück.14 Herr B. berichtet, dass auch in seiner Schule einzelne Fächer in polnischer Sprache unterrichtet werden mussten. An seiner Aufzählung fällt auf, dass nicht Fächer, die für das spätere Berufsleben der Schüler wichtig waren wie beispielsweise Mathematik, auf Polnisch unterrichtet wurden, sondern Fächer wie Geschichte, Geographie und Singen, welche in der Geschichte des Schulwesens sehr oft zur staatsbürgerlichen Erziehung benutzt wurden.15 Herrn B. zufolge wurden diese Nationalisierungsversuche an seiner Schule unterlaufen, indem nicht etwa Polnisch gelehrt wurde, sondern die Kinder die für die - für deutsche Schulen oft problematische16 - Schulvisitation benötigten polnischen Texte auswendig lernten, ohne sie zu verstehen. Inwieweit dieser Bericht der Realität entspricht oder einem nach Flucht und Vertreibung eventuell bestehenden Wunsch des Autors geschuldet ist, die Integrität der deutschen Bevölkerungsgruppe in Polen besonders zu betonen17, kann nicht mehr entschieden werden. Die Regel war ein solches Vorgehen nicht, es sind auch zahlreiche Beispiele für ein friedliches und kooperatives Miteinander zwischen Deutschen und Polen auf staatlicher wie privater Ebene überliefert.18 Andererseits gab es aber auch viele deutsche Kinder, deren Polnischkenntnisse nicht ausreichten, um erfolgreich am polnischsprachigen Unterricht teilzunehmen.19

Kinder, die nur wenig oder kein Polnisch sprachen, lebten nur dort, wo die Deutschen ähnlich wie in Minutsdorf größere, geschlossene Gemeinschaften bildeten, was keineswegs überall der Fall war. Dort waren, wie Herr B. anklingen lässt, die Schulen auch Teil einer Organisationsstruktur, welche den Deutschen eine eigene Infrastruktur zur Verfügung stellte, von kulturellen Angeboten über berufliche Entfaltungsmöglichkeiten bis hin zur Wohlfahrtspflege.20 In solchen Regionen reagierten die polnischen Schulbehörden oft mit rigideren Maßnahmen, wenn sie feststellten, dass auch einige Jahre nach der Staatsgründung immer noch viele Deutsche keine Vorteile darin sahen, ihre Kinder in der Staatssprache unterrichten zu lassen.21

Herr B. trat seine Stelle in Minutsdorf 1937 an. In diesem Jahr galt noch der Nichtangriffspakt, den die Regierung Hitler 1934 mit der Republik Polen geschlossen hatte, außerdem wurde am 5. November dieses Jahres eine polnisch-deutsche Minderheitenerklärung abgegeben.22 Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten war deshalb relativ entspannt, was sich mit Abstrichen auch auf die Behandlung der deutschen Minderheit in Polen und auf die Schulpolitik positiv auswirkte.23 So wurden beispielsweise die Zulassungsbedingungen für deutsche Schulen gelockert. Dies änderte sich aufgrund der aggressiven deutschen Außenpolitik. Im Frühjahr 1939 verschärfte die polnische Regierung ihre Repressionen gegenüber den deutschen Schulen deutlich. Viele Schulen sollten geschlossen werden, darunter auch diejenige in Minutsdorf.24 Der deutsche Überfall auf Polen und die anschließende Besetzung verhinderte dies. Minutsdorf wurde wieder Teil des Deutschen Reiches, die Schule blieb bestehen.


1 Lempart 1999, S. 412-414, 426f.

2 Lempart 1999, S. 414f, 423, 425, 458.

3 Vgl. Lempart 1999, S. 457-460, 463.

4 Vgl. Eser 2010, S. 220f.

5 Vgl. Eser 2010, S. 507f, 670f.

6 Eser 2010, S. 461, 469, 474-476; Lempart 1999, S. 482.

7 Eser 2010, S. 71f, 509-518, 523f.

8 Eser 2010, S. 551.

9 Vgl. Eser 2010, S. 21-23.

10 Eser 2010, S. 60-67.

11 Eser 2010, S. 251; Lempart 1999, S. 477f.

12 Eser 2010, S. 116-129, 282, 365-369, 552-556; Lempart 1999, S. 441f, 477.

13 Eser 2010, S. 60-81, 505f, 668; vgl. Eser 2003, S. 365-371; Linek 2009.

14 Eser 2010, S. 445-461; Lempart 1999, S. 477-485.

15 Vgl. Neměc 2010, S. 12f; Eser 2010, S. 552-567.

16 Eser 2010, S. 550.

17 Vgl. Eser 2010, S. 57f.

18 Eser 2010, S. 68f, 224.

19 Eser 2010, S. 373-378.

20 Vgl. Eser 2010, S. 60, 222-225.

21 Eser 2010, S. 552f.

22 Eser 2010, S. 622-640, 673.

23 Eser 2010, S. 571, 622-640; Lempart 1999, S. 443-452, 478.

24 Eser 2010, S. 640-658;Lempart 1999, S. 456, 485.


Literatur:

Eser 2003: Ingo Eser: Die Deutschen in Oberschlesien, mit einem Kapitel "Zu den Quellen" von Jerzy Kochanowski. In: WłodzimierzBorodziej, Hans Lemberg (Hg.): "Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...". Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Band 2. Zentralpolen, Wojewodschaft Schlesien (Oberschlesien), Zentralpolen. Marburg 2003

Eser 2010: Ingo Eser: "Volk, Staat, Gott!". Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918-1939. Wiesbaden 2010

Lempart 1999: Matthias Lempart: Polen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. München 1999, S. 407-495

Linek 2009: Bernhard Linek: Die Marginalisierung der deutschen Minderheit im polnischen Oberschlesien während der Zwischenkriegszeit: Das Beispiel Königshütte/KrólewskaHuta (Chorzów). In: Mathias Beer, Dietrich Beyrau, Cornelia Rauh (Hg.): Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950. Essen 2009, S. 189-198

Neměc 2010: MirekNeměc: Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918-1938, Essen 2010