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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Die Historie der Deutschen in Russlande und unser Lebenslaufe!

Autor: Theodor R., geb. 1916, Buchhalter

Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, handschriftliches Manuskript, 13 Seiten

Entstehungszeit und -ort: Ostrach, Oberschwaben 2003

Entstehungszusammenhang: Bericht für das Generallandesarchiv Karlsruhe; der Autor möchte, dass seine Leser die Geschichte der Russlanddeutschen und ihrer Kultur, die in seiner Familie bewahrt wurde, weitertragen.

Zeitraum der Schilderung: 1916-1960

Personen: Katharina II. (1729-1769), Zarin von Russland; Josef W. Stalin (1878-1953), Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare

Schlagworte: Arbeitsarmee, Ausbildung, Diskriminierung, Familie, Geschlechterverhältnis, Haft, Heirat, Hunger, Kollektivierung, Krankheit, Lebensverhältnisse, Schule, Spätaussiedler, Umzug, Zwangsarbeit

Geographische Schlagworte: Ukraine, Usolsk, Orlof, Kupino, Sibirien, Uljanowsk, Workuta, Russland

Konkordanz: Kupino → Купино, Russland; Uljanowsk → Ульяновск, Russland; Workuta → Воркута, Russland

Fundort: Deutsches Tagebucharchiv e.V. Emmendingen, Signatur 910, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/deutsches-tagebucharchiv-ev

Editionsmodus: [vollständiges Transkript]


Inhalt:

Der Autor berichtet von der Geschichte seiner Familie seit den 1920er Jahren. Er beginnt mit der Herkunft seiner Eltern aus der Ukraine und der Übersiedlung seiner früh verwitweten Mutter zu deportierten Verwandten nach Sibirien 1928. In einem Exkurs erzählt er von der Ansiedlung der Deutschen in der Ukraine 1764 und einigen Bräuchen. Seine Beschreibung der Repressionen der 1930er Jahre und der Kollektivierung verquickt er mit Berichten zu seiner Schul- und Ausbildungszeit als Buchhalter sowie seiner Heirat. Mit Kriegsbeginn 1941 bemerkte er Diskriminierungen der Deutschen, 1942 wurde er zur Arbeitsarmee einberufen. 1943 wurde Herr R. nach Workuta deportiert, wo er bis 1960 als Buchhalter in den Kohleminen arbeitete. 1946 zog auch seine Familie nach Workuta, 1960 durfte die Familie nach Kupino zurückkehren. In den 1990er Jahren siedelte die Familie in die Bundesrepublik Deutschland über.


Einordnung/Kommentar:

Der ungelenke Stil des Berichts verrät den ungeübten Autor und ist damit Beleg dafür, dass das bewegte Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion auch Menschen, die in ihrem Leben wenig Affinität zum geschriebenen Wort zeigten, dazu motivierte, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben. Wie viele andere Russlanddeutsche auch erweitert Herr R. seine eigenen Erinnerungen um Ausführungen zur Geschichte der Russlanddeutschen seit der Ansiedlung durch die Zarin Katharina die Große. Dies zeigt, dass die Migrationsgeschichte der eigenen Vorfahren für die Russlanddeutschen einen wichtigen Erinnerungsort bildet.

Ein Großteil der Deutschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion lebten, war im asiatischen Teil dieses Staates ansässig, vor allem in Sibirien, Kasachstan oder Kirgisien. Die meisten von ihnen, fast eine Million Menschen, waren nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 dorthin deportiert worden.1 Außerdem waren bereits seit dem späten 19. Jahrhundert deutsche Kolonien in Sibirien entstanden, und es waren, wie Herr R. dies von seinen Verwandten beschreibt, schon vor 1941 Deutsche nach Asien verbannt oder deportiert worden, die dann ihre Familien oder Verwandte nachholten. 1939 lebten von 1,4 Million Russlanddeutschen etwa 210.000 östlich des Ural.2 Der Umzug nach Sibirien, den die Familie R. vollzog, war also nicht ungewöhnlich. Herrn R.s Bericht macht deutlich, dass in Sibirien neben überwiegend deutsch besiedelten Orten auch solche existierten, die nicht so stark deutsch geprägt waren. So gerieten die Deutschen dort durch ihre mangelnden Russischkenntnisse nicht nur in der Schule in Schwierigkeiten und mussten sich an ihr russischsprachiges Umfeld anpassen. Dadurch verlernten nicht wenige die deutsche Sprache und haben seit der Mitte der 1990er Jahre deshalb Schwierigkeiten, als Spätaussiedler anerkannt zu werden.3

Herr R. erwähnt nur kurz, dass seine Familie die große Hungersnot des Jahres 1921, die aufgrund der Folgen des Bürgerkrieges und von Missernten entstanden war, überlebte. Wie auch viele andere Ukrainer verdankte er dies amerikanischen Hilfslieferungen und -küchen, welche von der sowjetischen Regierung genehmigt worden waren.4 Während der verheerenden Hungersnot der Jahre 1932/33 wurden solche Hilfsmaßnahmen des Auslandes nicht in gleichem Maße erlaubt, was mit zur hohen Opferzahl beitrug.5

Die negativen Folgen der Kollektivierung, die Herr R. kurz nennt, trafen ihn dank seines Umzugs nach Sibirien weniger hart als die Menschen in seiner ursprünglichen Heimat, wo die Kollektivierung mit zu den Ursachen der bereits genannten Hungersnot von 1932/33 gehörte.6 Für Herrn R.s Lebensweg war eine weitere Folge der Kollektivierung entscheidend: Die ehemaligen Bauern lebten jetzt als Landarbeiter auf Kolchosen, sie besaßen keine eigenen landwirtschaftlichen Betriebe mehr, die sie vererben konnten oder für deren Bewirtschaftung sie ihre Familienangehörigen brauchten. Unterstützt von der staatlichen Industrialisierungspolitik wählten daher viele Bauernsöhne ähnlich wie Herr R. einen Beruf außerhalb der Landwirtschaft. Seine Berufswahl erleichterte es Herrn R., sowohl die Trudarmija, die Arbeitsarmee, als auch die Lagerhaft in Workuta zu überleben, da er in beiden Fällen nicht zu körperlich anstrengenden Tätigkeiten herangezogen wurde, sondern als Buchhalter einer vergleichsweise privilegierten Tätigkeit nachgehen durfte.7

Die Russlanddeutschen galten als Angehörige des Volkes, gegen das die Sowjetunion Krieg führte, nicht als vertrauenswürdig. Sie wurden deshalb zwar zur Armee eingezogen, ab September 1941 aber zusammen mit Angehörigen anderer Minderheiten, deren Staatsnationen im Konflikt mit der Sowjetunion standen, in Bautrupps versetzt. Dort lebten sie, wie auch aus Herrn R.s Bericht deutlich wird, ähnlich wie Lagerhäftlinge und mussten Schwerstarbeit beim Eisenbahnbau, in Bergwerken, in der Industrie oder der Forstwirtschaft leisten.8 Die von Herrn R. beschriebenen schlechten Lebensbedingungen, denen viele Lagerinsassen und Trudarmisten zum Opfer fielen, werden auch in vielen anderen ähnlichen Berichten bezeugt.9

Herr R. wurde an einen der bekanntesten Internierungsorte für Deutsche gebracht, nach Workuta.10 Er lebte dort als Soldat der Arbeitsarmee, nicht als Gulag-Häftling. Workuta wurde erst in den 1930er Jahren zur Ausbeutung der Kohlevorkommen im äußersten Norden des europäischen Russland an den Ausläufern des Ural gegründet. Die Geschichte der Stadt ist eng mit derjenigen der dortigen Arbeitslager verknüpft, die von 1931 bis zum Ende der 1950er Jahre bestanden. Die Stadt wurde von Häftlingen gebaut, ebenso wie die Eisenbahnlinie, die nach Workuta führte. Auch die Arbeiter im Bergbau und der ihm zuarbeitenden Forstwirtschaft waren bis in die 1950er Jahre hinein fast ausschließlich Häftlinge. Die von ihnen geförderte Kohle war für die Energieversorgung der Sowjetunion während des Krieges und der anschließenden Wiederaufbaujahre von großer Bedeutung, weshalb die Häftlingszahl auch nach Kriegsende noch anstieg. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren in dem unwirtlichen Klima nördlich des Polarkreises jedoch sehr schlecht, was insbesondere in den Kriegsjahren einen großen Teil der Häftlinge das Leben kostete.11 In Workuta wurden sehr viele Deutsche inhaftiert, neben Sowjetbürgern wie Herrn R. auch deutsche Kriegsgefangene oder Menschen, die aus politischen Gründen in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR inhaftiert worden waren. Von ihnen sind zahlreiche Augenzeugenberichte überliefert, die Workuta als besonders unmenschlichen Haft- und Verbannungsort bekannt machten.12

Die Arbeitsarmee wurde 1946 aufgelöst, ihre Angehörigen wurden meist als reguläre Beschäftigte in die Betriebe übernommen, bei denen sie bereits arbeiteten, und mussten deshalb meist an ihrem Deportationsort bleiben. Sie galten als Sondersiedler, die in ihrer Freizügigkeit stark eingeschränkt waren, ansonsten aber zusammen mit ihren Familien ein normales Leben führten.13 Herr R. war zwar nicht deportiert worden, er wurde aber dennoch bis 1960 in Workuta als Sondersiedler festgehalten. Die Erlaubnis zur Rückkehr an seinen vorherigen Wohnort Kupino hatte er neben seinen gesundheitlichen Problemen wahrscheinlich auch dem Umstand zu verdanken, dass Kupino in Sibirien lag und nicht in den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten im Westen der Sowjetunion, wohin die Deportierten grundsätzlich nicht zurückkehren durften. Außerdem gestanden die sowjetischen Behörden den Sondersiedler nach Stalins Tod 1953 bereits einige Erleichterungen zu, nach 1960 wurden sie sogar teilweise rehabilitiert.14

Herrn K.s Beschreibung seiner Aussiedlung in die Bundesrepublik zu Beginn der 1990er Jahre erweckt - jenseits allen tatsächlichen Geschehens, aber bezeichnend für sein Geschichtsverständnis - schließlich den Eindruck, als habe sich hier ein Kreis geschlossen: So, wie die Zarin Katharina die Deutschen nach Russland gerufen hatte, so wurden sie nun von der "Obrigkeit" nach Deutschland zurückgerufen.

1 Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 303-312; Eisfeld 1996, S. 14-17; Kurilo 2010, S. 145-153; Buchsweiler 1984, S. 278-288; Baberowski 2007, S. 237.

2 Eisfeld 1996, S. 13; Gerber 1992, S. 119.

3 Meindl 2012, S. 268-270.

4 Davies, Wheatcroft 2004, S. 403-406; Wemheuer 2012, S. 27-45.

5 Davies, Wheatcroft 2004, S. 406-441; Buchsweiler 1984, S. 68f, 229-231.

6 Wemheuer 2012, S. 62-95; Buchsweiler 1984, S. 222-233; Hildermeier 1998, S. 399-401; Eisfeld 1992, S. 104-108.

7 Vgl. Frank 2010, S. 55f; Kurilo 2010, S. 156-158.

8 Waschkau 2005, S. 944-947; Eisfeld 1996, S. 17-19; Kurilo 2010, S. 153-161.

9 Vgl. Kurilo 2010, S. 131-188; Hedeler 2008; Waschkau 2005, S. 947-960.

10 Vgl. Jenkner 2006, S. 23; Foitzik, Hennig 2003.

11 Jenkner 2006, S. 25-39, 97-247; Frank 2010, S. 21-24, 31-41; Applebaum 2003, S. 118f, 142-144, 253.

12 Jenkner 2006, S. 23f; vgl. Bude 2010, S. 56-73; Donga-Sylvester, Czernetzky, Toma 2000.

13 Kurilo 2010, S. 153; Waschkau 2005, S. 960-965; Eisfeld 1996, S. 19-22.

14 Eisfeld 1996, S. 22.


Literatur:

Applebaum 2003: Anne Applebaum: Der Gulag. Berlin 2003

Baberowski 2007: Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. Lizenzausgabe, Bonn 2007

Bude 2010: Roland Bude: Workuta. Strafe für politische Opposition in der SBZ/DDR. Berlin 2010

Buchsweiler 1984: Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs - ein Fall doppelter Loyalität? Gerlingen 1984

Davies, Wheatcroft 2004: Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933 (The Industrialisation of Soviet Russia 5). Basingstoke 2004

Donga-Sylvester, Czernetzky, Toma 2000: Eva Donga-Sylvester, Günter Czernetzky, Hildegard Toma (Hg.): "Ihr verreckt hier bei ehrlicher Arbeit!" Deutsche im Gulag 1936-1956. Anthologie des Erinnerns. Graz 2000

Eisfeld 1996: Alfred Eisfeld (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln 1996

Foitzik, Hennig 2003: Jan Foitzik, Horst Hennig (Hg.): Begegnungen in Workuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. 2., durchgesehene Auflage, Leipzig 2003

Frank 2010: Tibor Frank: Widerstand im Gulag. Überlebensstrategien und aktiver Protest in sowjetischen Straflagern 1923-1960. Marburg 2010

Gerber 1992: Olga Gerber: Die Auswanderung der Sibiriendeutschen in den Jahren 1929-1930. In: Boris Meissner, Helmut Neubauer, Alfred Eisfeld (Hg.): Die Russlanddeutschen. Gestern und heute. Köln 1992, S. 119-141

Hedeler 2008: Wladislaw Hedeler (Hg.): Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953. Eine dokumentierte Chronik. Bonn 2008

Hildermeier 1998: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998

Jenkner 2006: Siegfried Jenkner: Die Frühzeit von Workuta - ein Überblick aus Berichten und Dokumenten. In: Jens Blecher, Gerald Wiemers (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern 1945 bis 1955. Leipzig 2006, S. 23-41

Kurilo 2010: Olga Kurilo: Die Lebenswelt der Russlanddeutschen in den Zeiten des Umbruchs (1917-1991). Ein Beitrag zur kulturellen Mobilität und zum Identitätswandel. Essen 2010

Meindl 2012: Ralf Meindl: "Jetzt sind wir zu Hause!". Aussiedler - Die Rückkehr der Deutschen aus Osteuropa. In: Eckhard Trox, Michaela Ernst (Hg.): "Wir hier!" Zuwanderung und Migration nach Lüdenscheid und in die märkische Region. Lüdenscheid 2012, S. 261-278

Pinkus, Fleischhauer 1987: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987

Waschkau 2005: Nina Waschkau: Arbeitsarmee und Sondersiedlung. Das Schicksal der Rußlanddeutschen 1941-1945. In: Karl Eimermacher, Astrid Volpert (Hg.): Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Band 1, München 2005, S. 939-968

Wemheuer 2012: Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin 2012