Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Autobiography, covering my life in Germany, until my emigration together with my family, to Chile in 1939
Autorin: Margot Frohmann, geb. 1898, Studentin, Hausfrau
Quellenbeschreibung: Autobiographischer Erinnerungsbericht, maschinenschriftliches Manuskript, 42 Seiten
Entstehungsort und -zeit: Santiago de Chile, 1982
Entstehungszusammenhang: Bericht für die Enkel, die Deutschland nur flüchtig kennen
Zeitraum der Schilderung: 1898-1939
Personen: Marcus Max Kopfstein (1856-1924), 1889-1924 Rabbiner in Beuthen, Chronist der Synagogengemeinde Beuthen1
Max Tau (1897-1973), jüdischer Schriftsteller, Lektor und Herausgeber aus Beuthen, erster Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels2
Schlagworte: Alltag, Familie, Industrie, jüdisches Leben, Kindheit, Konzerte, Schule, Studium, Reise, Volksabstimmung in Oberschlesien, Weihnachten, Wohnverhältnisse
Geographische Schlagworte: Oberschlesien, Beuthen, Kattowitz, Frankfurt am Main, Chile
Konkordanz: Beuthen → Bytom, Polen; Kattowitz → Katowice, Polen
Fundort: Leo Baeck Institute for the study of the history and the culture of German-speaking Jewry, New York; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/leo-baeck-institute-for-the-study-of-the-history-and-the-culture-of-german-speaking-jewry
Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat [Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York]
Inhalt:
Die Autorin berichtet von ihrer Kindheit in einer großbürgerlichen, deutschnationalen, assimilierten jüdischen Familie in Beuthen im ausgehenden Kaiserreich und während des Ersten Weltkriegs. Frau Frohmann schildert vor allem Freizeitaktivitäten, die Schule spielt eine untergeordnete Rolle. Neben Ferienreisen, Kinderspielen im Freien und musikalischer Erziehung sowie Prozessionen und Paraden gilt ihr Augenmerk besonders dem kulturellen Leben in Beuthen und Kattowitz.
Frau Frohmann verließ Beuthen noch während des Ersten Weltkriegs, um in Frankfurt am Main Medizin zu studieren. Ihr Leben dort und ihre Ehe mit einem ebenfalls jüdischen Bankier beschreibt sie bis zur Emigration 1939 sehr ausführlich. Bei mehreren Besuchen in Beuthen muss sie sich mit den Folgen der Teilung Oberschlesiens 1921 auseinandersetzen.
Einordnung/Kommentar:
Der Bericht von Frau Frohmann erlaubt Einblicke in die Lebenswelt assimilierter, bürgerlicher Juden in einer Mittelstadt. Als herausragendes Merkmal der Region nennt sie die Industrieanlagen3 und den überwältigenden Eindruck, den der nächtliche Abstich der Hochöfen bei ihr hinterließ. Sie geht jedoch nicht näher auf den Charakter dieser Industrie ein. Natur und Landschaft beschreibt sie nicht, lediglich die Winterkälte ist ihr eine Erwähnung wert. Gleiches gilt für regionale Bräuche. Hier beschreibt sie nur die - von ihr als lokales Ereignis allerdings überaus geschätzten - katholischen Prozessionen, den Schmuck der Kirchen zu Weihnachten, Schützenfeste und Militärparaden. Darüber hinaus berichtet sie in erster Linie von ihrer Familie und von kulturellen Veranstaltungen, insbesondere Konzerten mit überregional bekannten Künstlern, die sie in Beuthen, Kattowitz und Berlin besuchte.4 Ihre schulische Laufbahn ist ihr nur kurze Bemerkungen wert. Für sie als Jüdin - und hier teilt sie die Erfahrung zahlreicher jüdischer Jugendlicher im ausgehenden Kaiserreich - stellt es keine Besonderheit dar, die christliche Höhere Töchterschule in Beuthen und die Mädchenoberrealschule in Kattowitz zu besuchen.5 Ihr Vater überlässt ihr die Schul- und Berufswahl und stellt ihr dabei ausdrücklich ein Studium in Aussicht. Dies zeigt nicht nur die Studium und Berufstätigkeit von Frauen gegenüber aufgeschlossene Einstellung des Vaters, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch keineswegs selbstverständlich war6 - Frauen konnten sich in Preußen erst ab 1908 regulär als Studentinnen einschreiben.7 Die Haltung des Vaters spiegelt auch die bei vielen assimilierten Juden anzutreffende Wertschätzung höherer Bildung, die wichtige gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten bot.8 Als ebenso typisch für jüdische Studentinnen im ausgehenden Kaiserreich kann das Studienfach gelten. In der Medizin musste sie weniger mit antisemitischen Vorbehalten rechnen als im Lehrberuf, den die Mehrzahl ihrer nichtjüdischen Kommilitoninnen wählte.9
Frau Frohmann fühlte sich anders als viele andere Berichterstatter nicht zur Chronistin ihres Heimatortes berufen, sondern berichtet vor allem von ihrem Leben und ihren Erfahrungen. Dabei wird deutlich, dass sie - typisch für ihre soziale Herkunft10 - aufgrund ihrer bürgerlichen Lebensführung vom Freizeitverhalten bis hin zu den Jugendstilmöbeln in der elterlichen Wohnung kaum über spezifisch schlesische, sondern nur über weit verbreitete moderne bürgerliche Lebensformen zu berichten weiß. Ebenso steht ihre jüdische Identität im Schatten ihrer Zugehörigkeit zum Bürgertum. Obwohl sie - wohl auch wegen des von ihr sehr geschätzten Orgelspiels11 - Gottesdienste in der liberalen Synagoge besucht, spielen religiöse Vorschriften in ihrem Leben keine Rolle. Die Familie feierte beispielsweise Weihnachten, und sie selbst besuchte auch christliche Gottesdienste, um die Atmosphäre und die Musik zu genießen. Klassische Musik und die in ihrer wie in vielen deutschen Bürgerfamilien gepflegte Hausmusik12, spielten in ihrem Leben eine zentrale Rolle.
Die berufliche und gesellschaftliche Stellung des Vaters - er ist erfolgreich in der regionalen mittelständischen Industrie tätig und Mitglied im Schützenverein - ist mit der vieler anderer jüdischer Beuthener, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnten, vergleichbar.13 Frau Frohmanns Stolz, dem Kaiser begegnet zu sein und dem Kronprinzen beim Tennis zugesehen zu haben, sowie ihre Begeisterung für die Militärparaden an den Nationalfeiertagen zeigen, dass sie sich wie die Mehrzahl der assimilierten Juden mit dem deutschen Kaiserreich identifizierte.14
Von regionalspezifischen Erfahrungen berichtet Frau F. fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Teilung Oberschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg. Da es sich bei der preußischen Provinz um eine gemischt deutsch und polnisch besiedelte Region handelte, wurde dort gemäß des Versailler Vertrags am 20. März 1921 darüber abgestimmt, ob Oberschlesien in Zukunft zum Deutschen Reich oder zur neu gegründeten Republik Polen gehören sollte. Im Vorfeld dieser Abstimmung und unmittelbar danach kam es zu äußerst hitzig geführten Wahlkämpfen und drei polnischen Aufständen, die zahlreiche Todesopfer forderten. Letztlich wurde Oberschlesien ungefähr dem Stimmenverhältnis entsprechend geteilt. Ein Drittel der Region, in der die wichtige Industriestadt Kattowitz und die meisten Industrieanlagen lagen, wurde Polen zugesprochen.15
Die Autorin lebte zu dieser Zeit nicht mehr in Oberschlesien, konnte wegen der problematischen Geburt ihres ersten Kindes aber auch nicht dorthin reisen, um, was ihr als gebürtiger Oberschlesierin zustand, vor Ort abzustimmen.16 Wie sehr die Stimmung aufgeheizt war, zeigt sich in Frau Frohmanns Bericht daran, dass ihr dieses "Versäumnis" selbst von ihrem Vater übel genommen wurde. Die Reaktion des Vaters wird nicht nur dadurch verständlich, dass dieser wie die meisten national gesinnten Deutschen die Teilung Oberschlesiens als schwere Niederlage auffasste. Beuthen blieb deutsch, lag aber direkt an der neuen Grenze und entwickelte sich deshalb während der 1920er und 1930er Jahre zu einem Brennpunkt der nationalistisch-revisionistischen Agitation.17 Hier war deutlich zu erkennen, wie sich nationalistische und antisemitische Vorstellungen verbanden. Die Beuthener Juden hatten sich im "Abstimmungskampf" für die deutsche Seite engagiert, auch der Vater der Autorin, der von ihr verehrte Rabbiner Dr. Marcus Kopfstein und der bekannte Schriftsteller Max Tau, ein Altersgenosse der Autorin.18 Dies wurde von der deutschen Seite jedoch verschwiegen. Bereits in den ersten beiden Jahren nach der Abstimmung kam es sogar zu antisemitischen Ausschreitungen.19 In der "Schlesischen Zeitung" wurde kolportiert, dass viele der über 2.500 Beuthener Juden20 nicht abgestimmt hätten, um bei einer eventuellen Übergabe Beuthens an Polen keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu erleiden. Daraufhin angestellte Nachforschungen ergaben, dass in die Wahllisten nur drei Juden eingetragen waren, die ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen hatten - ein zwischenzeitlich verstorbener und ein entmündigter, also nicht wahlberechtigter Mann sowie eine junge Frau, die im Wochenbett gelegen und daher nicht nach Beuthen habe reisen können21 - aller Wahrscheinlichkeit nach die Autorin, die so ohne eigenes Zutun in den Mittelpunkt eines politischen Disputs geriet, der in der Rückschau wie ein Menetekel für die Entwicklung nach 1933 wirkt.22
Die angespannte Lage im deutsch-polnischen Grenzgebiet wird auch dadurch deutlich, dass Frau Frohmann, die vor dem Ersten Weltkrieg in Kattowitz in die Schule ging und die Stadt häufig zu Konzerten und Theateraufführungen aufsuchte, nach 1921 nur aufgrund der beruflichen Beziehungen ihres Vaters nach Polen ein Visum für den polnischen Teil Oberschlesiens erhielt.
1 Dudek 2009, S. 207, 236, 342; Maser 1992, S. 72, 81; Kopfstein 1891.
2 Haberland 2000; Kosellek 2000; Haas 1988.
3 Vgl. Pierenkemper 2001; Kociszewski 2001.
4 Nipperdey 1991, S. 56, 166-171.
5 Vgl. Dudek 2009, S. 233-244; Kaplan 2003, S. 258-260; Schatzker 1988, S. 39; Heinken 2000, S. 80; Kaul 1991; Nipperdey 1991, S. 561f.
6 Huerkamp 1996, S. 40-44; Kaplan 1997, S. 194; Kaplan 2003, S. 245, 271; Nipperdey 1991, S. 50, 57.
7 Huerkamp 1996, S. 75.
8 Lässig 2001, S. 263-266; Vgl. Kaplan 2003, S. 235, 258, 270, 275, 315-317; Gotzmann 2001, S. 241; Schatzker 1988, S. 39; Nipperdey 1991, S. 382-388.
9 Kaplan 1997, S. 197, 199; Kaplan 2003, S. 270f.
10 Vgl. Kaplan 2003, S. 234, 236, 239, 319f; Nipperdey 1991, S. 56, 166-170.
11 Vgl. Dudek 2009, S. 281-290; Maser 1992, S. 79.
12 Kaplan 2003, S. 239; Nipperdey 1991, S. 741-746.
13 Vgl. Weiser 1992, S. 37-40; Dudek 2009, S. 32-35, 160-182, 209f; Kaplan 2003, S. 234, 289-293, 320, 332-334; Lässig 2001, S. 263; Schiwietz 2000, S. 203-207.
14 Vgl. Kaplan 2003, S. 233-240; Nipperdey 1991, S. 56f, 382f.
15 Tooley 1997; Struve 2003; Grosch 2002, S. 11-36, 368-388; Grosch 2003; Haubold-Stolle 2008; Madajczyk 2001; Michalczyk 2011, S. 40-53; Ther 2003, S. 236.
16 Grosch 2002, S. 33-35.
17 Haubold-Stolle 2008, S. 97f, 129-133; Haubold-Stolle 2009; Michalczyk 2011, S. 66f.
18 Bloch 1927; Maser 1992, S. 81; Weiser 1992, S. 45-48; Haubold-Stolle 2008, S. 96-98; Haberland 2000, S. 12; Kosellek 2000, S. 34f, 50f; Schiwietz 2000, S. 211f; Grosch 2002, S. 44, 57f, 133.
19 Haubold-Stolle 2008, S. 97f.
20 Maser 1992, S. 76.
21 Bloch 1927; Weiser 1992, S. 48; Haubold-Stolle 2008, S. 97.
22 Vgl. Weiser 1992, S. 48.
Literatur:
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Haubold-Stolle 2008: Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919-1956. Osnabrück 2008
Haubold-Stolle 2009: Juliane Haubold-Stolle: Imaginative Nationalisierung der Grenzregion Oberschlesien 1918-1933/39. In: Mathias Beer, Dietrich Beyrau, Cornelia Rauh (Hg.): Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950. Essen 2009, S. 215-224
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Huerkamp 1996: Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und akademischen Berufen 1900-1945. Göttingen 1996
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Ther 2003: Philipp Ther: Der Zwang zur nationalen Eindeutigkeit und die Persistenz der Region: Oberschlesien im 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts; Marburg 2003, S. 233-257
Tooley 1997: T. Hunt Tooley: National Identity and Weimar Germany. Upper Silesia and the Eastern Border 1981-1922. Lincoln, London 1997
Weiser 1992: Adelheid Weiser: Juden in Oberschlesien. Ein historischer Überblick. In: Peter Maser, Adelheid Weiser: Juden in Oberschlesien. Teil 1: Historischer Überblick. Jüdische Gemeinden. Berlin 1992, S. 13-63