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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Die Reise nach Schlesien vom 12.5.-17.5.1983; Meine vierte Reise nach Breslau vom 25.05.-30.05.1986

Autor/Autorin: Hildegard G-W., geb. 1911, Textilkünstlerin, Kunstlehrerin

Quellenbeschreibung: maschinenschriftliche Abschriften von Briefen, Reiseberichten, handschriftliche Notizen, Fotos, 12 Blatt

Entstehungszeit und -zusammenhang: Briefe an Bekannte, 1983, 1986

Zeitraum der Schilderung: 1983, 1986

Personen: Wanda Bibrowicz (1869-1954): Textilkünstlerin, 1903/04-1911 Lehrerin1 an der Königlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule Breslau (ab 1911: Akademie für Kunst und Kunstgewerbe)

Max Wislicenus (1861-1957): Künstler und Lehrer an der Kunst- und Gewerbeakademie Breslau2

Hans Poelzig (1869-1936): Architekt, 1903-1916 Direktor der Kunst- und Gewerbeakademie Breslau, verantwortlich für mehrere stadtbildprägende moderne Gebäude in Breslau3

Schlagworte: Architektur, Stadtbild, Heimwehtourismus, Staatliche Akademie für Kunst und Kunstgewerbe Breslau

Geographische Schlagworte: Schlesien, Breslau, Sagan, Hirschberg im Riesengebirge

Konkordanz: Breslau → Wrocław, Sagan → Żagań, Hirschberg → Jelenia Góra

Riesengebirge → polnisch: Karkonosze, tschechisch: Krkonoše

Archiv/Fundort: Haus Schlesien, Deutsches Kultur- und Bildungszentrum e.V., Königswinter; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/haus-schlesien-deutsches-kultur-und-bildungszentrum-ev

Editionsmodus: vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Die Autorin berichtet Bekannten, die ebenfalls aus Breslau stammen, von zwei Reisen mit ihren Söhnen in ihre Heimatstadt Breslau inklusive mehrerer Ausflüge in die Umgebung der Stadt in den 1980er Jahren. Sie beschreibt sowohl die Reiserouten als auch verschiedene Vorkommnisse während der Reisen sehr detailliert. Ihr besonderes Augenmerk gilt ihren persönlichen "Erinnerungsorten". Sie versucht, das "alte Breslau" wiederzufinden und notiert jeden Bezug zur deutschen Vergangenheit. Dabei tritt sie in engen Kontakt mit Polen, deren Leistungen im Umgang mit dem deutsch-schlesischen Erbe sie zu würdigen weiß.


Einordnung/Kommentar:

Die Briefe von Frau G.-W. gehören in den Zusammenhang des sogenannten "Heimwehtourismus" vieler Vertriebener. Wie viele dieser Reisenden macht sie ihre erste Fahrt in die alte Heimat als Gruppenreise.4 und sucht "'ausgezeichnete' Orte"5 ihres Lebens vor der Vertreibung auf: die ehemalige Wohnung, Wohnhäuser von Freunden und Bekannten, Kirchen, Schulen, die Wege, die sie einst ging, der Modesalon, in dem sie eine Lehre absolvierte, die Kunstgewerbeschule, an der sie offenbar aktiv war, und die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe, deren überregionale Bedeutung sie betont.6 Viele der Gebäude existieren aufgrund der Zerstörungen am Kriegsende nicht mehr. In den schweren Kämpfen um die Festung Breslau, die bis zum 6. Mai andauerten, wurde die bis dahin von Kriegseinwirkungen verschont gebliebene Stadt fast völlig zerstört.7 Viele Erinnerungsorte der Autorin wurden beim Wiederaufbau Wrocławs8 überbaut. Dennoch ist die Autorin sehr stolz darauf, dass sie als "alte Breslauerin" ihrem Sohn ohne Zögern den Weg zum Hotel weisen kann. Für sie ist die Stadt unter der Fassade Wrocławs offenbar immer noch ihre Heimatstadt Breslau. Dementsprechend scheut sie sich nicht, das Wissen einer Stadtführerin zu "ergänzen" und versorgt einen Mitarbeiter des Nationalmuseums mit Unterlagen über einen Professor der Breslauer Akademie - nicht ohne die Furcht, der Museumsmitarbeiter könne aus dem deutschen Professor Wislicenus einen Polen machen. Gegenüber Polen berichtet sie daher nach ihren Worten gern von "unserer Kultur", da die Polen einsehen müssten, dass Schlesien ein deutsches Land mit deutscher Kultur gewesen sei. Zugleich "berührt" und "bedrückt" es sie jedoch, nur Gast zu sein. Die umfangreichen Zerstörungen konstatiert sie mit großer Wehmut.

Das gilt nicht nur für die Wahrnehmung ihrer Heimatstadt Breslau, sondern auch für die Landgemeinden, die sie auf den Spuren ihrer Familiengeschichte oder einstiger Ferienausflüge besucht. Neben bekannten Sehenswürdigkeiten gilt ihr Augenmerk in erster Linie den ehemaligen Wohnorten Verwandter und den Friedhöfen, auf denen sie die Gräber ihrer Angehörigen vergeblich sucht. Nicht ungewöhnlich ist auch der Versuch, aus örtlichen Archiven Hinweise zur Familienforschung zu erhalten.

Die Begegnungen mit den nunmehrigen Bewohnern der von Frau G.-W. aufgesuchten Orte beschreibt sie fast ausschließlich positiv und sie äußert die Absicht, die Kontakte aufrecht zu erhalten.9 Als Andenken nimmt die Autorin Mineralien mit nach Hause, vergleichbar der von vielen Heimwehtouristen mitgebrachten Heimaterde.10

Für die Autorin ist es auch von großer Bedeutung, dass ihre Söhne sie begleiten. Sie nutzt die Gelegenheit, ihnen vor Ort zu erzählen, "wie es war" und genießt das Staunen und die Freude ihrer Kinder über die Größe und die Bauten Breslaus und das "herrliche Land". Den Nachgeborenen, die nicht selten zwischen den beiden Welten, der realen Heimat in Westdeutschland und der memorierten im Osten, aufwuchsen, konnten und können derartige Reisen zur Selbstvergewisserung dienen.11


1 Schlesisches Museum zu Görlitz 2004, S. 180; Stanicka-Brzezicka 2011; Stöver 2009, S. 71.

2 Hölscher 2003; Schlesisches Museum zu Görlitz 2004, S. 190.

3 Hölscher 2003, S. 94-194; Ilkosz, Störtkuhl 2000; Schlesisches Museum zu Görlitz 2004, S. 187.

4 Fendl 1998, S. 89f; Stennert 1995.

5 Fendl 1998, S. 93.

6 Vgl. Davies, Moorhouse 2002, S. 359, 437; Hölscher 2003; Schlesisches Museum zu Görlitz 2004.

7 Davies, Moorhause 2002, S. 53-59; Thum 2006, S. 21-30.

8 Vgl. Thum 2006.

9 Fendl 1998, 93f.

10 Lehmann 1993, S. 138-140.

11 Fendl 1998, S. 95-97.


Literatur:

Davies, Moorhouse 2002: Norman Davies, Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002

Fendl 1998: Elisabeth Fendl: Reisen in die verlorene Vergangenheit. Überlegungen zum "Heimwehtourismus". In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 41/1998, S. 85-101

Hölscher 2003: Petra Hölscher: Die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege einer Kunstschule 1791-1932. Kiel 2003

Ilkosz, Störtkuhl 2000: Jerzy Ilkosz, Beate Störtkuhl (Hg.): Hans Poelzig in Breslau. Architektur und Kunst 1900-1916. Delmenhorst 2000 (poln. Ausgabe: Muzeum Architektury we Wrocławiu [wyd.]: Hans Poelzig we Wrocławiu. Architektura i sztuka 1900-1916. Wrocław 2000)

Lehmann 1993: Albrecht Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990. München 1993

Schlesisches Museum zu Görlitz 2004: Dass. (Hg.): Werkstätten der Moderne. Lehrer und Schüler der Breslauer Akademie 1903-1932. Halle an der Saale 2004

Stennert 1995: Doris Stennert: "Reisen zum Widersehen und Neuerleben". Aspekte des "Heimwehtourismus" dargestellt am Beispiel der Grafschaft Glatzer. In: Kurt Dröge (Hg.): Alltagskulturen zwischen Erinnerung und Geschichte. Beiträge zur Volkskunde der Deutschen im und aus dem östlichen Europa. München 1995, S. 83-93

Stanicka-Brzesicka 2011: Ksenia Stanicka-Brzesicka: Die Fluchten von Wanda Bibriwocz. Die Weberin in Schreiberhau (Szlarska Poręba) 1911-1919. In: Małgorzata Omilanowska, Beate Störtkuhl: Stadtfluchten - Ucieczki z miasta. (Das gemeinsame Kulturerbe/Wspólne Dziedzictwo 7) Warszawa 2011, S. 201-210

Stöver 2009: Kerstin Stöver: Wanda Bibrowicz und die "Pillnitzer Werkstätten für Bildwirkerei. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 33/2006/07 (2009), S. 71-80

Thum 2006: Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. München 2006