Bundesadler und Schriftzug: Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Collage aus Bildern des Bundesinstituts, einer historischen Karte, der Jahrhunderthalle in Breslau/Wrocław, der Immanuel-Kant-Statue in Königsberg/Kaliningrad und den Schriftzügen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und des Bundesinstituts
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Weizackertracht - visuelle Konstruktion einer kulturellen Hegemonie

Ulrich Hägele

Tracht gilt als ein Symbol für konservative Werte. Zudem repräsentiert sie das Festhalten an der Tradition und das Bewahren alter Ordnungen. In der Tracht spiegelt sich aber auch eine Binnenexotik wider als Zeichen eines authentischen Lebens auf dem Land, "eine scheinbar intakte Welt, die als positiver Gegensatz zur eigenen Gegenwart geschätzt wurde" (1). Als volkskundliches Genre wird die Tracht in erster Linie über die fotografische Abbildungsform verbreitet. In der Alltagskultur der Gegenwart dringt Tracht fast ausschließlich als Bild, Idee oder Ausstellungsobjekt an die Öffentlichkeit. Bei diesem folkloristischen Blick ist der ursprüngliche, vestimentäre Gebrauchszusammenhang, aber auch der Entstehungskontext verloren gegangen. Anhand von Originalfotos, Illustrationen und Abbildungen der Weizackertracht soll die Frage geklärt werden, inwieweit Trachtenbilder ein hegemoniales Verständnis von Kultur unterstützen.

Visuell konstruierte Kontinuität

Klickt man im Internetsuchdienst "Google" auf "Weizacker" und "Tracht", so erhält man elf Links in deutscher Sprache. In den Texten ist die Rede von einem "reichen Stil, dem reichsten, den es in Pommern gab", und von Frauen, die, mit "Sinn für feierliche Selbstbekundung" (2), ihren "Muff sogar im Sommer" tragen. Und der Mann? Er hat "den typischen breitkrempigen schwarzen Schlapphut" auf dem Kopf. Man erfährt, der Weizen habe das Land wohlhabend gemacht - so reich, dass die Frauen "acht und noch mehr Röcke übereinander zur Schau" stellten, alle aus reiner Seide. (3)

Gestaltet wurden diese Internetseiten u. a. mit farbigen Abbildungen jeweils eines Paares. Danach und nach vorherrschender volkskundlicher und populärer Auffassung gibt es in Pommern vier Trachten: Die Belbucker, Jamunder, Mönchguter und, als berühmteste, die Weizackertracht. Die relativ aktuellen Fotografien neu gestalteter Trachtenpaare, ursprünglich aus dem Bildband "Pommersche Volkstrachten", stammen offenbar von Profis. Eklatant sind die motivischen Bezüge zu jenen Bildern aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die als Kalenderblätter in Form von so genannten Trachtenkupfern in großer Zahl auf den Markt geworfen wurden. (4) Diese bunten Sammelbilder der frühen Neuzeit hatten bereits eine stereotype Aufmachung: Mann und Frau befinden sich kostümiert vor einem kulissenartigen Hintergrund aus der Natur. Die Protagonisten stehen in Blickkontakt zueinander oder schauen in Richtung Betrachter. Nach dem Muster des ´idealen´ Wirtschaftspaares der frühen Neuzeit war das Bild-Ensemble insofern lesbar, als Mann und Frau auf dem Land eine Einheit bildeten, die in exemplarischer Weise Hauswirtschaft und Landarbeit miteinander verknüpfte. Kinder spielten in diesem Zusammenhang zunächst nur eine periphere Rolle.

Nachdem die Fotografie dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - im Weizacker erst an dessen Ende - die visuelle Darstellung von Tracht übernommen hatte, zogen sich die Männer langsam aus den Bildern zurück. Trachtenträgerinnen waren mit zunehmender Tendenz in der Hauptsache junge Frauen. Der Grund hierfür lag sicherlich im veränderten vestimentären Verhalten, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den meisten Regionen die Männertracht vollständig zugunsten einer eher schmucklosen städtischen Kleidung verdrängte.

Rose Julien beschrieb hierzu im Jahr 1912 Pommern, speziell das Weizackergebiet bei Pyritz, als "Hort der Volkstracht, die sich bei Frauen mittleren Alters noch überall erhalten hat, während die der Männer bereits seit längerer Zeit geschwunden" (5) sei. Julien präsentierte in ihrem Buch eine Farbabbildung von zwei Mädchen und einer Frau, die in Tracht vor einem Backsteingebäude stehen. Die Trachtenträgerinnen erscheinen nun, im Gegensatz zur Zeit der Trachtenkupfer, als alleinige Bewahrerinnen eines historisierenden Kostüms. In Zeiten des extremen Wandels und im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wurden damit Tradition und Kontinuität visuell festgeschrieben: Die massenhaft etwa in Form von Postkarten verlegten Bilder von Trachtenträgerinnen legten Frauen auf die Rolle einer Garantin von Überlieferung fest. Sie standen für das Motiv, ´immer so gewesen zu sein´, das zudem symbolisch die Fähigkeit zur Reproduktion für den Fortbestand der Heimat als heiler Welt mit einschloss.

Das Nationale in der Randlage

Die Popularisierung der Tracht durch Bilder von jugendlichen Trachtenmodels oder gar Kindern in illustrierten Publikationen entbehrte allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts einer realen Grundlage. Vor allem junge Frauen trugen kaum mehr Tracht - ein Umstand, den mancher Zeitgenosse bereits in den 1860er Jahren mit Bedauern kommentiert hatte. Ein Autor mokierte sich über den "seit einiger Zeit nicht mehr seltenen Anblick, bei der Fahrt zur Stadt oder sonst wohin auf dem Wagen die Mutter in der alten Tracht, neben ihr aber die Tochter, mit städtischem, mitunter recht geschmacklosem Putz, oft überladen, sitzen zu sehen" (6) Der Prozess der Entwirklichung von Tracht spiegelte sich in ihrer veränderten Funktion: Je mehr die Trachtenkittel aus den Kleiderschränken verschwanden, um so präsenter wurden sie "als Symbole bedrohter, aber idealisierter Lebenszusammenhänge" (7) in den öffentlichen Medien. Harmonisierende Schriften und entsprechend idyllisierend arrangierte Bildmotive übernahmen dabei die Aufgabe, Trachtensehnsüchte vor allem in bürgerlichen Kreisen zu wecken und zu verbreiten.

Im Deutschen Reich nahm Pommern als Provinz eine Randlage ein. Anhand der Veröffentlichungspraxis von illustrierten Büchern über Deutschland oder das Deutsche Reich lässt sich belegen, dass die Region in den Medien jedoch kein Schattendasein fristete. Die Ost-Provinz rückte vielmehr thematisch nicht selten in den zentralen Teil der Bildbände. "Schmucke Mannequins" auf pittoresken Foto-Bildern statteten die Weizackertracht mit einem erhöhten Erinnerungswert an eine exotische Kultur der hinterpommerschen Randlage aus, die es - aus Sicht des deutschen Lesers - über die Bilder symbolisch im Reich zu erhalten galt. Die stark ästhetisierenden Aufnahmen von Architekturen, Bräuchen und der Weizackertracht ließen sich in dem so geschaffenen metaphorischen Bezugsraum in ein kollektives Gedächtnis einlagern, wobei sich Vergangenheit so präsentierte, wie man sie sich vorstellte, bzw. wie sie sich das Publikum vorstellen sollte: gemäß eines Verständnisses von Kultur und Geschichte, in dem das "fremdartige Eigene" häufig immer wieder neu angeeignet werden musste und das Fremde jenseits der Grenze keinen Platz hatte. Anhand der visualisierten Objektivation einer ruralen Kleidungsform erfuhr das Nationale damit an den Rändern der Nation seine folkloristische Erprobung.

Während des Nationalsozialismus waren die Fotografinnen und Fotografen schließlich maßgeblich dafür verantwortlich, das germanozentrische Diktum mit dem Blut- und Boden-Gedanken zu verschmelzen. Die Tracht fungierte als äußerliches Bekenntnis zur Gemeinschaft und wurde damit ideologisch in Dienst genommen. Ein Vehikel hierzu war die ästhetische Überhöhung des Bildmotivs. Erna Lendvai-Dircksen etwa stellt eine alte und eine junge Frau in Weizackertracht auf einer Doppelseite gegenüber. (8) Die junge Frau, im Halbportrait, schaut direkt in die Kamera - wie ihre Nachbarin, die sitzende "Alt-Bäuerin", auf der rechten Seite. In beiden Fällen besteht das motivische Grundgerüst aus einer klassischen künstlerischen Dreieckskomposition. Die düstere Tönung und die motorische Statik der Protagonistinnen verleihen den Bildern einen monumentalen Anstrich - ein fotografisches "Trachtendenkmal" (9), das in einer Zeit der Kriegsrüstung und Rassepolitik eine Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft suggerieren sollte. Das weibliche Geschlecht erhält wiederum die Funktion des Transmitters. Das Ensemble verkörpert die Metapher der Fortpflanzung, "aus dem Mutterboden, aus der Heimaterde organisch gewachsen" (10). Damit transportieren die Bilder ein überkommenes Generationenmodell, welches Frauen die kontinuierliche Aufgabe zuschrieb, kulturelle Objektivationen innerhalb der Familie zu bewahren.

Der denkmalhafte Charakter dieser und ähnlicher Fotografien aus der NS-Zeit entstand nicht durch Zufall. Spätestens seit Kriegsbeginn und den ersten Bombenangriffen auf deutsche Städte war den Verantwortlichen in Berlin klar, dass ein großer Teil des deutschen Kulturguts in Form von Architekturen, Bildern und Objekten - darunter auch Preziosen der Volkskultur wie Trachten - im Original verloren gehen würde. Hitler verfügte hierzu, einen großen Teil der Museumsgüter und Architekturdenkmale für die Nachwelt fotografisch zu dokumentieren - um das Ganze dann in Trümmern versinken zu lassen. (11)

Kollektive Sinnstiftung und hegemonialer Prozess

Bis 1945 war die Randlage Pommerns durchaus noch mit regionalen Vorzeichen belegt, die etwa den Weizacker im Vergleich zu anderen Landstrichen als besonders vermögend erkennen lassen. Im Gegensatz etwa zur Württemberger Tracht standen in Pommern aber nicht einzelne lokale und regionale Formen im Vordergrund, die in der Vielfältigkeit eine politische Gemeinsamkeit symbolisieren konnten. Stattdessen wurde im Wesentlichen die Weizackertracht zum vestimentären Prototyp des "deutschen" Pommern. Dementsprechend verschwanden regionale Züge der pommerschen Trachten. Stattdessen wurden motivische Kompositionen aus der frühen Zeit der Tracht fotografisch aufgegriffen und neu in Szene gesetzt - eine heile und zugleich historisierte Welt, die von politischen oder technischen Veränderungen nicht tangiert erscheint. Die Familie, personifiziert durch Mann und Frau sowie Metapher für Einheit, Konstanz und Reproduktion, rückt wieder ins Zentrum der Abbildung.

Indem das regionale Moment verloren ging, kam ein hegemonialer Aspekt zum Tragen: Der Staat Polen, auf dessen Territorium sich das Weizacker-Gebiet befindet, wird in neueren deutschen Publikationen zur pommerschen Folklore nicht erwähnt. Umgekehrt verliert die von Trachtenvereinen im Westen praktizierte ethnische Ablösung ihren Zustand als nachgereichte Dimension durch die historische Situation von Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten - eine typische Verlustgeschichte. Nach Kaspar Maase resultieren aus eingebüßten geographischen wie biographischen Räumen neue Erlebnismöglichkeiten, die zu modernen Varianten der Selbstverwirklichung dienlich sein können. Dementsprechend schufen sich die pommerschen Flüchtlinge und Vertriebenen in der westdeutschen Fremde, im Hinblick auf die ´verlorene´ Heimat im Osten, mittels Bildern und Erinnerungen die alten Orte neu. Dieser Prozess vollzog sich auf politischer, praktischer und mentaler Ebene. Dabei wurden die alten Bilder aus der Erinnerung verarbeitet und neue dazu konstruiert, im Rückgriff auf eine folkloristisch wahrgenommene Vergangenheit der Heimat. Der historisierende Rückgriff und die folklorisierende Bewahrung, etwa der Weizackertracht, waren sinnstiftende Elemente in der neuen und vielfach als fremd wahrgenommenen Umgebung.

Gleichzeitig dienten die Tracht und ihr Bild im neuen, westlichen Umfeld als ethnische Legitimation der kollektiven Zugehörigkeit zur Gesellschaft und Nation: dass ihre Traditionsträger als Deutsche unter Deutschen in Deutschland angekommen waren. Die Trachtenfotografie repräsentierte hierzu das auffallendste Medium. Nur über das fotografische Bild konnte die Bindungskraft von erinnerten Orten, als "Fingerabdruck im Kopf" (12), ihren visuell-narrativen Ausdruck entfalten. Für die Konstruktion der neuen identitätsstiftenden Trachtenherrlichkeit ist indessen unerheblich, dass dieser Prozess aus einer landsmannschaftlichen Insellage heraus vonstatten ging - geographisch von der alten Heimat in Pommern losgelöst. So wurden auch die ersten Vereine für Gebirgstrachten im 19. Jahrhundert von Leuten gegründet, die nach den USA ausgewandert waren. Umgekehrt fand die Weizackertracht vor Ort inzwischen längst Eingang in die polnische Folklore. Fast 60 Jahre nach Kriegsende erhält eine Form der Tracht damit die fortgesetzte Funktion einer ethnischen Abgrenzung. Insofern käme eine andernorts festgestellte "Entideologisierung" (13) für die neuere Rezeption der Weizackertracht als Symbol des alten Pommern kaum in Betracht.

Im Archiv der Erinnerungsmuster erhält das kulturelle Erbe eine prozessuale Funktion. Verantwortlich hierfür zeichnet ein System von Codes, Symbolen und Interpretamenten. Als rurale Objektivation ist die Weizackertracht Teil einer folkloristischen Deutungshoheit, mit überwiegend visuell-narrativer Ausprägung. Mangels Zeitzeugen für die Oral History spielt wiederum die fotografische Abbildung eine wichtige Rolle in der Verbreitung und Rezeption dieser Trachtenvariante.

Die visuell-narrative Vermittlung als Form einer hegemonial angelegten ´Invention of Tradition´ treibt bisweilen merkwürdige Blüten. Ein Link (www.griese-es.de/photoshop/pyritz.jpg) aus dem Internet etwa zeigt ein blondes Spielzeugpuppen-Paar in Weizackertracht. Das Duo steht in grellem Licht vor einem weißen Hintergrund. Unklar bleibt, ob mit der Abbildung für einen Trachtenverein, Puppenkleider oder für das ehemalige Pommern geworben werden soll. In jedem Fall offensichtlich ist der motivische Rückgriff dieser Barbie-Variante auf die frühen Darstellungen der Weizackertracht. Vorgeführt wird das Bild vom Bild der Tracht, im Zeichen einer Folklore aus dritter Hand.

Die Tracht lässt sich für vieles instrumentalisieren: Tracht taugt zur bürgerlichen Sinnstiftung, sie vermittelt nationale Identität, und sie hat politische Wirkung. Dementsprechend eignet sich Tracht in der Öffentlichkeit zur Manipulation von Meinung, nicht nur im Nationalsozialismus. Auch heute noch präsentiert sich mancher Ministerpräsident gern mit Trachtenmädels, etwa wenn es darum geht, Staatsgäste zu empfangen oder Autobahnteilstrecken einzuweihen, aktuelle Agenturbilder belegen dies. (14) Die Weizackertracht war als grafisches und fotografisches Motiv im Verlauf von nahezu 200 Jahren einigen Brüchen ausgesetzt. Zugleich wird über die in alter Tradition, aber neu abgelichteten Modelle eine visuelle Kontinuität hergestellt und die Geschichte simultan fortgeschrieben.

Innerhalb der folkloristischen Formensouveranität eignet sich das vestimentäre Modell der Weizackertracht dazu, die historischen Ereignisse nach 1945 zu missachten und eine hegemoniale Situation hinsichtlich der Tracht hervorzubringen. Diese sucht, aus erzwungener geographischer Distanz, das vergangene Eigene als die allein berechtigte Kulturform im ehemaligen deutschen und heute polnischen Gebiet zu vermitteln.



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URL zur Zitation dieses Beitrages: https://www.bkge.de/weizackertracht/8029.html


Anmerkungen

(1) Walter 1996, S. 68.

(2) Mackensen 1952, S. 7.

(3) https://www.leba.de/Uber_uns/Trachten/hauptteil_trachten.html, 19. Januar 2004.

(4) Vgl. Keller-Drescher 2003. Lioba Keller-Drescher und Friederike Herrmann (Tübingen) danke ich für wertvolle Hinweise zum Thema.

(5) Julien 1912, S. 137.

(6) Illustrierte Zeitung, Nr. 1364, 21. August 1869, S. 153.

(7) Tschofen 1991, hier S. 338.

(8) Lendvai-Dircksen o.J., S. 66 u. 67.

(9) Jeggle 1984, hier S. 39.

(10) Sauer 1941, hier S. 48.

(11) Vgl. Sachsse 2003.

(12) Michael Jeismann: Lügen haben lange Bilder. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Januar 2004.

(13) Tschofen 1991, S. 352.

(14) Vgl. Walter 1996, S. 71-73.

Stand: 13.12.2011
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