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Die polnische Re-Konstruktion der Weizackertracht als regionales Identitätssymbol nach 1945Katinka SeemannDer vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der national bestimmten Vereinnahmung der Weizackertracht im seit 1945 polnischen Pyrzyce/Pyritz. Er stützt sich in der Hauptsache auf die einschlägige polnische Fachliteratur und auf archivalische Quellen aus dem Staatsarchiv in Stettin (Abschnitt 1.). Die in einigen Gesprächen und Begegnungen gewonnenen ausschnitthaften Einblicke in den tatsächlich praktizierten Umgang mit der Tracht sind im deutlich kürzeren zweiten Abschnitt festgehalten. 1. Polnische Rezeption und Rekonstruktion der Weizackertracht: ein LiteraturberichtDie Beschäftigung mit der Entwicklung der Volkskultur in den zunächst als "wiedergewonnene Gebiete" bezeichneten ehemaligen deutschen Ostgebieten begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts der nahezu vollständigen Neubesiedlung durch Polen unterschiedlicher regionaler Herkunft lautete seinerzeit die Hauptfrage für die polnische Soziologie und Ethnographie: "In welchen Bahnen wird die Synthese verlaufen, wie wird die Kristallisation der ethno-soziologischen Beziehungen in diesen Gebieten aussehen?" (1) Dieser besonderen Situation in den neuen Westgebieten Rechnung tragend entwickelte Bożena Stelmachowska direkt nach dem Krieg das Konzept "Pommern im Programm der ethnographischen Forschung". (2) Die Ethnologin war für diese Aufgabe prädestiniert, weil sie als eine von wenigen Forscherinnen schon vor dem Zweiten Weltkrieg die Situation im damals noch deutschen östlichen Teil Pommerns untersucht hatte. Auf der Grundlage dieser Kenntnisse war sie auch die erste polnische Wissenschaftlerin, die sich im Rahmen einer den "wiedergewonnenen Gebieten" gewidmeten Publikationsreihe mit den ethnographischen Besonderheiten Pommerns am konkreten Beispiel der Pyritzer Region auseinander setzte. (3) Die Absicht dieser Reihe bestand darin nachzuweisen, dass die neuen Westgebiete rechtmäßig an den polnischen Staat gekommen seien, weil es sich hier um ursprünglich slawisches Siedlungsland handele. Entsprechend verweist Stelmachowska schon im Vorwort (4) auf die eindeutig nicht-deutsche Charakteristik der Pyritzer Volkskunst, die nur durch die "Slawizität" der Gebiete erklärbar sei. Den Nachweis dieser Behauptung leitet die Autorin mit einer umfangreichen Darstellung des Pyritzer Landes und seiner Geschichte ein. Sie setzt an bei der Gründung des Klosters Kolbatz 1174 durch Zisterzienser aus dem dänischen Kloster Esrom; von dort hätten diese, so Stelmachowska, französische Kultureinflüsse aus dem Ursprungsland des Ordens mitgebracht. Slawische Siedler (Polaben) für Rodungs- und flandrische sowie holländische Siedler für Wasserarbeiten seien von den Zisterziensern als Kolonisten angeworben worden. Die (slawischen) pommerschen Fürsten fanden laut Stelmachowska Gefallen am Kolbatzer Kloster und ließen es ausbauen, was nicht ohne Einfluss auf die Bevölkerung geblieben sei, da diese so u. a. Paradetrachten und kostbare Stoffe kennengelernt habe. Die Autorin urteilt: "Von Germanisierung war ... keine Rede bis ins 17. Jahrhundert" (S. 11). Im Zuge der Schwedenkriege fiel 1648 zunächst Hinterpommern, 1720 bzw. 1815 auch Vorpommern (seit 1648 schwedisch) an Brandenburg-Preußen. Dennoch habe sich, so die Autorin, seine slawische Identität erhalten; das sieht sie durch slawische Ortsnamen, archäologische Funde und Siedlungsformen bezeugt. Die Autorin unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Verbindung zu Polen während dieser Zeit nicht ganz abgerissen sei. So hätten sich bei Dorfgründungen bis in die Zeit Friedrichs des Großen hier nicht selten auch Siedler aus Polen niedergelassen. Erst im 18. Jahrhundert sei es zur endgültigen Germanisierung gekommen. In den folgenden Kapiteln wendet sich Stelmachowska den verschiedenen Bereichen der materiellen Volkskunst zu. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt zur Stickerei, die mit der örtlichen Tracht aufs engste verbunden ist. Es wird erwähnt, dass dies eine Arbeit der Frauen (gewesen) sei. Dokumente aus slawischen Zeiten lägen von der Pyritzer Tracht nicht vor; Stelmachowska schließt aber nicht aus, dass sich bei späteren Archivforschungen noch nähere Informationen zur Tracht des 16. Jahrhunderts finden könnten. Die vorgefundenen Dokumente kommentiert sie so: "Was wir aus den Illustrationen des 18. Jahrhunderts kennen, stellt sich nicht besonders geschmackvoll dar. Es ist eine schrecklich überladene, steife und schwere Kleidung. Fragmente dieser Tracht hielten sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts" (S. 27). Als gesicherte Erkenntnis bezüglich des Tragens der Trachten stellt die Autorin fest, dass "die Pyritzerinnen für sich Leinen webten und daraus gestreifte Schürzen in grellen Farben machten. Die Hauben waren bescheiden, wenig geschmückt, tiefblau; die älterer Frauen schwarz. Es werden auch Goldbrokatstoffe erwähnt und, häufiger, mit silbernem Faden durchwirkte tiefblaue oder rote Mädchenhauben. Bei der feierlichen Haubenaufsetzung zur Trauung war eine weiße silberdurchwirkte Haube in Gebrauch. Diese Kopfbedeckungen trug man aus der Stirn geschoben, bis zu den Ohren anliegend, und band sie unter dem Kinn" (S. 27). Als wichtigster Teil der Tracht wird das Schultertuch bezeichnet, beidseitig verwendet je nach - frohem oder traurigem - Anlass. Bei ihrer Beschreibung der Ornamentik einzelner Trachtbestandteile nimmt Stelmachowska prägnante Werteinschätzungen vor. So zu den Strümpfen: "Das Ganze als Gegenstand ist nicht hübsch" (S. 29). Und zu den Handschuhen: "Die Gestalt dieser Handschuhe ist gewöhnlich nicht schön - die Arbeit ist schablonenhaft, trägt deutschen Charakter - die Stickerei besitzt aber trotzdem ihren ästhetischen Wert" (S. 29). Hier tritt eine unverhohlene Abneigung alles Deutschen zutage: Die Gestalt der Tracht ist hässlich und deutsch, die Stickerei auf der Tracht ist schön - und, wie sie später schreibt, slawisch. "Es besteht ein ... deutliches Mißverhältnis zwischen der Pyritzer Volkstracht und dem für diese Tracht verwendeten Schmuckwerk. Wir sehen hier nicht jene harmonische Einheit, die z. B. die schlesische, die Góralen- oder die Lausitzer Tracht kennzeichnet. So kunstvoll die Stickereien und die (Zier-)Nähte auch sein mögen, so sehr ist die Tracht selbst, wenn auch reich, doch eher steif, dick und schwer. Offenbar hat sich hier das kalte Klima des Nordens ausgewirkt, sicher auch die Einflüsse der unter der slawischen Bevölkerung lebenden Siedler aus Deutschland und Holland" (S. 30). Stelmachowska schließt ihre Ausführungen mit Allgemeinen Bemerkungen zur Volkskunst im Pyritzer Land. Zum materiellen Sammlungsbestand an Pyritzer Volkskunst sagt sie, bis 1939 seien im Provinzialmuseum in Stettin, im Museum des Gymnasiums in Pyritz, im Kreismuseum Pyritz und in den staatlichen Sammlungen in Berlin viele Exponate vorhanden gewesen (aus diesen Einrichtungen stammen auch die in den Text integrierten Abbildungen). Zusammenfassend erläutert die Autorin die besonderen Kennzeichen der Pyritzer Volkskunst: Auffallendstes Merkmal seien die Farbenpracht und die große Dichte der Ornamente, wobei - ebenso bemerkenswert - keine Farb- und Musterselektion festzustellen sei. "Man fürchtet sich vor dem leeren Raum" (S. 35). Diesen Mangel an Komposition deutet sie als Dokumentation von Reichtum (S. 36). Als weitere Charakteristik fällt ihr die große Zahl der Motive auf (vor allem Blumen). Das Schmuckwerk der Region weist damit, so Stelmachowska, vor allem ein wesentliches Defizit auf: "Die Ornamentik des Pyritzer Landes hält sich nicht an die logische Trennung der zwei Motivgattungen, der geometrischen und der pflanzlichen. Blumen, Schlingpflanzen, Tannenzweige, Knospen sowie höchst phantastische und botanisch nicht bestimmbare (Blumen) verlieren häufig ihren pflanzlichen Charakter, z. B. unterliegen sie in der Stickerei einer Geometrisierung. Die für die slawische Ornamentik charakteristische umrahmende Wellenlinie tritt auf als sich windendes Schmuckband mit Glockenblumen, Nelken, Kugelblumen oder in einer Reihe Margeriten. Zugleich jedoch füllen in überwiegendem Maße geometrische Verzierungen das ornamentische Feld aus" (S. 39). Bezüglich des Alters der vorgefundenen Realien geht Stelmachowska davon aus, dass (1946) die zugänglichen Gegenstände oder Illustrationen durchschnittlich 100, 150, höchstens 200 Jahre alt seien. Eine klare chronologische Entwicklung sei allerdings gerade auch im Vergleich der verschiedenen Bereiche künstlerischen Schaffens nicht zu erkennen: "Es zeigt sich, daß die Chronologie sich keineswegs mit dem Enstehungsdatum erschöpft, sie ist relativ" (S. 40). In den Jahren nach Erscheinen der Schrift von Stelmachowska flaute das Interesse an Fragen regionaler Identität oder gesellschaftlicher Integration in den neuen Westgebieten ab, womit auch die Untersuchung von Volkskunst zum Erliegen kam. Dies ist zurückzuführen auf die in Polen 1948 einsetzende Zeit des Stalinismus, was insbesondere für die Jahre von 1949 bis 1953 bedeutete, dass "sich Polen ideologisch und organisatorisch gänzlich der Sowjetunion anglich" (5). Damit verschwand die bis dahin relativ große Freiheit des geistigen Lebens. Ein Indiz für die Wirksamkeit dieser Tendenz kann man im Literaturverzeichnis der (weiter unten besprochenen) Arbeit von Danuta Kułakowska "Möglichkeiten der Entwicklung der Volkskunst in der Wojewodschaft Stettin" (1969) erkennen. Darin stammen von insgesamt 52 Titeln lediglich vier aus jenen Jahren. Entsprechend stammt der nächste relevante Text aus dem Jahre 1954. Während Stelmachowska in ihrer Darstellung die Tracht allein vom "volkskünstlerischen", also rein "materiellen" Standpunkt aus analysiert, begibt sich Stanisław Piotrowski, wie schon der Titel seiner Ausarbeitung "Die gegenwärtige Aufgabe der Volkstracht" (6) andeutet, auf eine Meta-Ebene der Betrachtung; ihm geht es um die Funktion beliebiger Volkstrachten überhaupt in einer sozialistischen Gesellschaft. Ein Blick in die Geschichte der Trachten lehrt den Autor, wie diese aufs engste verbunden seien mit den Traditionen des Feudalismus. Auf der Suche nach zeitgemäßen Mitteln für den künstlerischen und politischen Ausdruck fragt er jedoch sogleich: "Aber soll heute unsere Beziehung zu diesen Trachten negativ geprägt sein, wie zu etwas, das durch feindliche Gewalt aufgedrängt wurde?" "Nein" lautet seine entschiedene Antwort. Denn das von der Volksrepublik Polen angestrebte "Anknüpfen (an das polnische Volkskulturerbe) hat die Verbreitung dieser Errungenschaften zum Ziel und befördert ihre Fortsetzung unter den günstigen Bedingungen einer Volksrepublik, für die vorhergehende Generationen kämpften und die von uns realisiert wurde. Dank dieser Entwicklung ist die Volkstracht heute bei den arbeitenden Massen freudige politisch-kulturelle Manifestation der Erfolge der Führung, der Errungenschaften des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus, und was einmal nur volkstümlich war, ist heute zu einem allgemeinen nationalen Wert der neuen sozialistischen Gesellschaft geworden" (S. 9). Und deshalb werden Trachten nach Piotrowskis Verständnis immer wichtiger: Sie seien die Feiertagskleidung der Arbeiter und daher bei allen festlichen Gelegenheiten zu tragen. Der Autor betont, dass es "die polnische Tracht" nicht gebe, vielmehr lägen zahlreiche regionale Varianten vor. Bemerkenswert ist, dass Piotrowski in der anschließenden Aufzählung kommentarlos alte und neue Regionen Polens nebeneinander stellt, so als seien etwa Pyritzer und Warschauer Tracht ohne weiteres vergleichbar; die ethnische Vermischung, zu der es infolge der Westverschiebung des polnischen Staates im nunmehr polnischen Pommern gekommen ist, findet keinerlei Berücksichtigung. Für die gemischten Gebiete wird offenbar angenommen, dass die lokal verwurzelten Trachten jenen Zweck erfüllen sollen. Ganz im Sinne der Rede von den "wiedergewonnenen Gebieten" verweist Piotrowski auf eine seinerzeit im Entstehen begriffene Publikationsreihe der Polnischen Volkskundegesellschaft, die in 56 Monographien polnische Trachten behandeln soll und in die 1955 u. a. die Pyritzer Tracht (s. u.) aufgenommen wurde aufgrund ihrer "deutlichen Anknüpfung an die slawischen Trachten" (7). Aus den genannten Überlegungen leitet der Autor die Notwendigkeit ab, auf wissenschaftlicher Grundlage neue Trachten nach alten Mustern zu schneidern, die sich in Museen finden, in Büchern, in Kisten und Kasten auf den Dachböden alter Leute, und vor allem sollen alte Frauen befragt werden. Probleme erwartet Piotrowski bei der Herstellung (Stoffe, Schmuckwerk, etc.), hier sollen Volkskünstler ihre Nische finden ("Amateurbewegung"). Die erste und einzige polnische Monographie der Pyritzer Tracht wurde 1955 von Agnieszka Dobrowolska (8) vorgelegt und erschien in der von Piotrowski erwähnten Reihe von Publikationen zu polnischen Volkstrachten als erstes Heft des ersten Teils, der den pommerschen Trachten gewidmet ist. In der Vorbemerkung der Redaktion heißt es zur Aufgabe der Veröffentlichung: "Diese Monographie hat nicht die Wiederbelebung der Pyritzer Tracht zum Ziel - in der Region wird sie nämlich heute weder getragen noch ist sie überhaupt bekannt, die Monographie ist nur der Versuch einer
Damit setzten sich die Herausgeber der Publikationsreihe deutlich von Piotrowskis euphorischen Worten ab. Im Gegensatz zu ihm streben sie vor allem nüchterne wissenschaftliche Beschreibung und historische Einordnung der Tracht an. Dass die Arbeit auch einen praktischen Nutzen erfüllen könne, wird hier nur beiläufig erwähnt. Gleichwohl ist die Monographie faktisch zur Quelle der Folklorisierung der Tracht geworden. Sie ist als "Urmaterial" der polnischen Beschäftigung mit der Pyritzer Volkstracht anzusehen, auf die, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung um gut zehn Jahre, in verschiedenen Kontexten bis in die Gegenwart zurückgegriffen wurde und wird (vgl. 2.). Vornan erwähnt sei hier als beinahe kurioses Faktum, was Dobrowolska, ganz am Ende ihrer Ausführungen, als Charakteristik der Quellen bezeichnet, auf die sie für ihre Arbeit zurückgreifen konnte: "Die für diese Untersuchung zur Verfügung stehenden Quellen waren ausschließlich deutsche Publikationen, aus welchen man mittels langwieriger Forschungen gezielt das verschwommene Bild vergangener historischer Prozesse sowie den Entstehungsmechanismus gewisser kultureller Erscheinungen herauspräparieren mußte. ... Es war wegen der fortwährenden Schwundprozesse im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht möglich, irgendwelche Relikte der Tracht im Gebiet zu finden" (S. 53). Alle vorgetragenen Thesen zu Aussehen, Geschichte und Entwicklung der Pyritzer Tracht fußen mithin auf frühen deutschen Beschreibungen und Analyseversuchen dieser Verhältnisse, die, so Dobrowolska, ihres ideologischen Gewandes entkleidet werden mussten, auf dass aus dem wahren Kern die echte Geschichte der Pyritzer Tracht erkennbar werde. Ein heikles Unterfangen, das seinerseits nicht frei von eigenen Ideologisierungen bleibt. In ihrer Einleitung unterstreicht Dobrowolska zunächst die enge historische Verbindung zwischen Polen und dem "ost-odranischen" Pommern. So dauere die slawische Vergangenheit der Region an bis zum Jahr 1637, da die Herrschaft der pommerschen Piasten im Pyritzer Land endete, welche ein "dauerhaftes geistiges Band zwischen Westpommern und Polen" geschaffen habe. In der Folgezeit, nach Anerkennung der brandenburgischen Lehnshoheit, sei der "slawische und polnische Stamm" der "Westpommern" (so genannt aus polnischer Sicht) bald Germanisierungsprozessen unterlegen. Als hervorragendes Merkmal des Pyritzer Landes sieht Dobrowolska dessen Eigenschaft als politisch gewolltes Zuwanderungsgebiet. Es habe zwei Wellen von Kolonisierungsmaßnahmen gegeben: die erste vom 12. Jahrhundert an, die zweite in größerem Umfang im 15./16. Jahrhundert und bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die angesiedelten Kolonisten entstammten den Niederlanden (Flandern, Holland, Friesland), dem westlichen Deutschland (Sachsen, Westfalen), Frankreich, England, Schweden, Tschechien, Ungarn und der Schweiz. Aufgrund der topographischen Verhältnisse der Pyritzer Region - einer Seen- und Sumpflandschaft - habe es sich bei den Kolonisten vorwiegend um Spezialisten für Meliorationsarbeiten (Wasserbau): Holländer und Friesen gehandelt. Die Kenntnis des geschichtlichen Hintergrundes ist für Dobrowolska deshalb so wichtig, weil nur so die Herkunft der Pyritzer Tracht und damit ihre ethnische oder gar nationale Identität aufgeklärt werden könne. Die deutschen Thesen zur Herkunft der Tracht (vor allem von Robert Holsten) umreißt sie wie folgt: "Die Aussagen der deutschen Wissenschaft postulieren eine Verbindung zwischen der ethnischen Gruppe, deren Tracht in der vorliegenden Arbeit beschrieben wird, und der Kolonisation der Kolbatzer Zisterzienser, die - in ihren Augen selbstverständlich - ein ausschließlich deutsches Element eingeführt hätten, und zwar aus der Altmark" (S. 5). Dobrowolskas Entgegnung: Es reiche "ein Blick auf die beschriebene Tracht, um sich überzeugen, daß sie mit dem Wirken der Zisterzienser nichts zu tun haben kann. Denn diese Tracht relativ später Provenienz kann nicht früher entstanden sein als im 17. Jahrhundert, und das auch nur in Ansätzen, und damals gab es das Kloster schon längst nicht mehr" (S. 5f.). Mit diesem Argument für eine spätere Entstehungszeit der Tracht beschreibt Dobrowolska zugleich die polnische Sicht der Dinge: "Ein Produkt ... der westeuropäischen Kolonisation slawischer Gebiete ist die jüngste Pyritzer Tracht. Die Kleideranalyse hat ihre Entstehung aufklären können; ihr Ausgangspunkt war Ostfriesland bzw. dessen nächste Umgebung, wie etwa das friesische Oldenburg links der Weser, denn dort entwickelte die Kleidung unter dem Einfluß des holländischen Barock einen geradezu hieratischen Pomp" (S. 6f). Bedeutend für den weiteren Argumentationsverlauf ist vor allem die folgende Bemerkung: "Diese Tracht weicht gänzlich von den anderen polnischen (nicht westpommerschen) Trachten ab und unterscheidet sich ebenso von der Tracht der im Pyritzer Land eingesessenen polnischen Bevölkerung" (S. 7). An diese Differenzierung knüpft die Autorin ihre weiteren Überlegungen zu Herkunft und Entwicklung der Tracht. Dazu referiert sie zunächst den derzeitigen Stand der Volkstracht im Untersuchungsgebiet. Holsten folgend stellt sie fest, dass die Tracht nach 1900 zu schwinden begann. Entsprechend trugen vor dem Zweiten Weltkrieg nur noch einige ältere Leute die Tracht, aber "niemand von den Jungen wollte sie tragen. Und man wollte es deshalb nicht, weil man kein Aufsehen erregen wollte" (S. 7). Bis hierher reiht sich die Darstellung ein in die üblichen Beschreibungen zum Niedergang regionaler Trachten. Im Folgenden jedoch verzerrt die Autorin die historischen Gegebenheiten erheblich, wenn sie kommentiert: "Die Tracht unterschied sich offenbar als ein Fremdkörper von der Umgebung so sehr, daß z. B. die polnischen Schneider sich darüber lustig machten, was bewirkte, daß sie immer mehr außer Gebrauch geriet" (S. 7f). - Von nennenswerten polnischen Bevölkerungsanteilen im deutschen Vorkriegspommern kann keine Rede sein - Saisonarbeiter ausgenommen - (9), geschweige denn davon, dass sie die Schneiderzunft geschmacksbildend beherrscht haben könnten. In einem Historischen Abriss der Entwicklung der Pyritzer Tracht entfaltet Dobrowolska detailliert ihre zentrale Differenzierung zwischen einer alten polnischen Pyritzer Tracht und einer neuen Kolonisten-Tracht: "Als älteste Erwähnung der Tracht kann man eine in den Besichtigungsakten der Stadt Wollin [Wolin] enthaltene Notiz aus dem Jahre 1560 ansehen, die ´ein grau pyritzisch Kleidt´ betrifft, das von Männern angelegt wird. Dieses Gewand war ohne Zweifel der von Pyritz aus entlang der ganzen Küste getragene graue (polnische) Bauernrock autochthoner, also polnischer Herkunft. Die Pyrzyczanen erfreuten sich nämlich des Rufes der besten Tuchweber in Pommern, wovon bereits die Chronik Pomerania aus dem 16. Jahrhundert zeugt." (S. 8). Die neue Tracht dagegen sei erst im 17. oder 18. Jahrhundert entstanden, also zur Zeit des Barock, wobei allerdings die erste Erwähnung aus dem 19. Jahrhundert stammt (im Zusammenhang einer Feier zu Ehren Friedrich Wilhelms III.). Ein weiteres Zeugnis stellt ein Gemälde des Malers Most von 1840 dar, das ein Mädchen in Tracht zeigt. Auf diese recht spärlichen Informationen stützt Dobrowolska ihre These zur Herkunft der neuen Tracht: Nach den Napoleonischen Kriegen (um 1816) hätten Kolonisten sie mit ins Land gebracht. Dabei gilt ihr die zweifelhafte Aussage einer 1820 geborenen Frau über die Verhältnisse in den 1820er Jahren als ein weiteres wichtiges Indiz, welches sie aufgreift, ohne seine Richtigkeit zu hinterfragen (man bedenke das Alter der Gewährsperson zur fraglichen Zeit) oder auch nur die Fundstelle anzugeben: "Eine sehr wertvolle Feldinformation ist der Bericht einer gewissen Franziska Bodenstein, 1820 in Kolbatz [Kołbacz] geboren, welcher das Auftreten der Tracht in den 1820er Jahren bestätigt. Es wird festgestellt, daß die beschriebene Pyritzer Tracht in Kolbatz und Umgebung ausschließlich von Bewohnern entfernterer Dörfer getragen wurde, wenn diese vor Gericht erscheinen mußten. Dies habe im übrigen nicht nur für Kolbatz gegolten; ´um die 1820er Jahre herum (ist) überall eine völlig andere Tracht getragen worden´, autochthoner Provenienz, später verdrängt durch die Neuankömmlinge und nur in den Grenzdörfern bis etwa zur Jahrhundertwende noch eine Randexistenz führend" (S. 9). Die offenbar recht genaue Beschreibung, die jene Franziska Bodenstein laut Dobrowolska von der alten Tracht gibt, dient dieser als Grundlage für ihre weiteren Mutmaßungen zum Aussehen jener Kleidungsform und der Malerin M. Orłowska als Vorgabe für deren bildnerische Umsetzung (Tafel I). Um das Gesagte zu verbildlichen und zu legitimieren, zieht Dobrowolska verschiedene Abbildungen heran, die den einschlägigen deutschen Darstellungen entnommen sind - wiederum ohne Quellenangabe. In einem zweiten Schritt belegt Dobrowolska Ähnlichkeiten der Pyritzer Tracht mit der Volkskleidung in anderen "slawisch vorbesiedelten" Regionen, etwa der Lausitz oder der Kaschubei.
Die Integration autochthoner Schmuckelemente in die Kolonisten-Tracht weist Dobrowolska durch den Vergleich zweier Gemälde nach (Abb. 6, S.12: "Ursprüngliches Aussehen der Kolonistentracht für den Kirchgang aus dem Kreis Pyritz Anfang des 19. Jahrhunderts" und Abb. 8, S. 14: "Pyritzer Kolonistentracht von 1864 nach Kretschmer"). Hier zeige sich, "daß ursprünglich diese Tracht gänzlich frei war von jeglicher Stickerei. So war die Schürze gestreift, ohne alle Stickerei, desgleichen die Strümpfe, die lediglich markante Zickzack-Ziernähte besaßen, und das Tuch war mit Blumen bedruckt; es wurde übrigens bis zum Schluß unter einem bestickten Übertuch getragen. Es gab keinen Muff, auch keine geschmückten Taschen oder Strumpfbänder.
So waren also die spärlichen Stickereien, die die spätere Pyritzer Tracht schmücken ..., autochthoner Herkunft und hatten nichts gemeinsam mit der Kleidung der Kolonisten, die die früheren Siedlungsgebiete der Slawen um Pyritz und Greifenhagen [Gryfino] bewohnten und deren Schmuckwerk übernahmen" (S. 11ff). Neu auftretende Accessoires der Tracht stammen, so die Autorin, aus der städtischen Mode des Barock und deuten auf erheblichen Wohlstand hin: "Die Röcke der Pyritzer Tracht, die Muffs, Samttaschen und Schmuck-Strumpfbänder (haben) nicht mehr viel von der Volkstümlichkeit einer Tracht, wiewohl das Volk sie sich auf eine charakteristische Weise zueigengemacht hat" (S. 13). Der wachsende Wohlstand in Pyritz sei seinerseits auf die Auswirkungen der Industrialisierung zurückzuführen (Technisierung der Landwirtschaft, Ausbau der Verkehrswege). Von einiger ideologischer Verzerrung zeugt die abschließende Einschätzung der Situation, in der sich die polnische Bevölkerung zu dieser Zeit befand: "Bei diesem Stand der Dinge hatte die eingesessene polnische Bevölkerung, abgedrängt in eine untergeordnete soziale Position, keinerlei Chance der Entwicklung und daher auch keine Möglichkeit zur Ausbildung eines eleganteren Kleidungsstils" (S. 17). Dennoch befindet Dobrowolska: "Dieser Umstand fand seinen Ausdruck in der Ethnonymie, indem die polnischen Schneider, Kätner und Arbeiter sich über die fremde Tracht lustig machten, was nicht ohne Einfluß blieb auf deren rasches Verschwinden" (S. 17). Entbehrt diese Auslegung auch jeder historischen Begründung, so ist doch insgesamt festzuhalten, dass die These einer Anreicherung bzw. Vermischung jener westeuropäischen Tracht mit slawischem Schmuckwerk keinesfalls abwegig erscheint, zumal sich Analogien z. B. zur Lausitzer Tracht förmlich aufdrängen (Farbenpracht, vor der Brust gekreuztes Schultertuch, Blumenornamentik). Die uns bei Dobrowolska begegnenden Ideologisierungen entsprechen alle dem zeitgemäßen Bestreben nachzuweisen, dass mit der Westverschiebung Polens und der "Wiedergewinnung" der alten westlichen Siedlungsgebiete die historische Gerechtigkeit gewaltet habe. Zwei Jahre nach deren Erscheinen veröffentlicht Maria Frankowska (10) eine Rezension der Monographie von Dobrowolska. Einleitend stellt sie den Hintergrund dar, vor welchem die Entstehung der Monographie zu sehen ist: "Die Herausgabe der Monographie A. Dobrowolskas ist verknüpft mit dem Umstand, daß die polnische wissenschaftliche Welt das 500jährige Jubiläum der Rückkehr Pommerns zu Polen begeht" (S. 280). Im zweiten Schritt gibt sie einen Einblick in die Vorgaben, die von der Redaktion für alle an der Monographie beteiligte Autoren formuliert wurden und die sowohl einzelne zu behandelnde Trachtenteile betreffen als auch die genaue Kapitelfolge festlegen. Dobrowolska habe sich dabei, so Frankowska, in einer sehr viel schwierigeren Lage befunden als die anderen Autoren, einerseits weil die Tracht ausgestorben sei, andererseits weil sie sich ausschließlich auf deutsche Quellen habe stützen können, um die Tracht zu rekonstruieren. Und "diese - in überwiegendem Maße befangenen - Quellen haben gezielt den Verlauf alter historischer Geschehnisse verunstaltet im Bemühen, alle Spuren slawischer Kultur in der Region Westpommern zu verwischen" (S. 282). An einigen Punkten der Monographie äußert Frankowska Kritik. Sie bemängelt, dass Dobrowolska weder die von Holsten noch die von Hans Siuts an anderer Stelle genannten Archivalien aus dem 16./17. Jahrhundert berücksichtige, die suggerierten, dass die Tracht damals schon existiert habe. Zwar "geben sie keine Angaben zu Schnitt und Aussehen der Kleidung, noch stützen sie sich auf zeitgenössisches Illustrationsmaterial, doch sie erwähnen einzelne Bestandteile der damals getragenen Kleidung und beschreiben ihre Farben" (S. 285). Die Rezensentin referiert als Beispiel kurz die archivalischen Darstellungen zu "Joppe", "Futterhemd", "Wams" und "Joseph". In diesem Zusammenhang weist sie auch darauf hin, dass Dobrowolskas Charakterisierung der Quellen, auf die sie sich stützt, zu knapp gehalten sei. Zudem gehe sie gar nicht auf bedruckte Trachtenelemente ein. Dobrowolskas (11) "Antwort auf die Rezension von Maria Frankowska", die ein Jahr später erscheint, fällt recht kurz aus. Der Reihe nach handelt sie die genannten Kritikpunkte ab. Eingangs unterstreicht sie: "Ich habe ganz bewußt das Material übergangen, das Holsten in seiner Monographie über Pyritz darstellt, und zwar einfach deshalb, weil es entgegen dem Anschein in gar keiner Verbindung steht mit den erst Anfang des 19. Jahrhunderts ins Land Pyritz gekommenen Friesen" (S. 439). Dass sie überhaupt nicht darauf eingeht, begründet sie mit dem Adressatenkreis der Arbeit: "Ich hielt es ... nicht für angebracht, eine trotz allem populärwissenschaftliche Monographie, deren Inhalt dem durchschnittlichen Leser ohnehin Schwierigkeiten bereitet, mit dem ganzen wissenschaftlichen Ballast zu überladen" (S. 439). Ferner erklärt die Autorin: "Desgleichen sind mir die die roten Futterhemden betreffenden Archivalien von Siuts wohlbekannt, die aber außer dem Namen nichts mit den dunkelblauen Bauernröcken gemeinsam haben" (S. 439; gemeint ist hier die gebräuchliche Bezeichnung der Kleidungsstücke). Was schließlich die Drucke auf Stoffen betrifft, "so war es schwierig, auf der Grundlage eines Tuches, das aus dem Grenzgebiet stammt, etwas Konkretes zu schreiben. Die bedruckten Schultertücher habe ich einige Male erwähnt" (S. 439). 1959, vier Jahre nachdem sie ihre Einzeldarstellung der Pyritzer Tracht verfasst hat, beschäftigt Dobrowolska sich in einem Artikel mit der "Problematik der Volkskleidung in Westpommern" (12). In weitem Bogen führt sie hier den Nachweis, dass es in dieser Region flächendeckend eine autochthon-slawische Tracht gegeben habe sowie dass und warum diese einheimische Kleidung in "Westpommern" (womit im Polnischen das Gebiet Hinterpommerns bezeichnet wird) das gleiche Schicksal erlitten habe wie die Pyritzer Tracht: Die einheimischen Trachten seien von denen der Kolonisten verdrängt worden. Dabei geht sie ausführlich auf die Siedlerströme ein (wobei sie unter Hinweis auf ihre Einzeldarstellung der Pyritzer Tracht deren Geschichte hier vernachlässigt) und versucht im Einzelnen, regional die Einflüsse der fremden Kulturen aufzuzeigen. Auch bezüglich der Pyritzer Tracht werden einige Details angeführt, die in ihrer Monographie nicht auftauchen. So heißt es etwa: "In den archivalischen Einträgen treffen wir auch eine Reihe von Erwähnungen zum Thema der englischen Kleidung. Im 15. und 16. Jahrhundert haben wir es in ... Werben am Madüsee [Wierzbno nad Miedwiem] und Brietzig [Brzesko Pyrzyckie] nicht nur mit englischem Stoff zu tun, aus welchem man seinerzeit sehr verbreitet Kleidung herstellte, sondern mit fertigen Teilen der Tracht, zu denen englische Bauerngewänder, englische Röcke und Leibchen, englische Hosen und Gehröcke und sogar englische Mützen und Mäntel zählen" (S. 66). Einen ganz neuen Aspekt eröffnet die Autorin im Hinblick auf die Herkunft des Pyritzer Stickwerks. Sie erkennt eine "enge Anknüpfung der Stickornamentik in Pyritz an das schöne tschechisch-ungarische Schmuckwerk, das auf Pelzen, Schürzen, Strümpfen usw. auftritt. Die Motivornamentik, ihre Stilisierung sowie ihre Farbgebung zeigen deutliche Übereinstimmungen" (S. 73). Auf welchem Wege sie indes nach Pyritz gelangt sei, bleibt im Dunklen. Beinahe eine Dekade vergeht, bis wieder ein eigens der Pyritzer Volkskunst gewidmeter Aufsatz erscheint. Im ersten der "Pyritzer Hefte" erscheint ein Beitrag von Maria Zelwan (13) über "Slawische Kulturelemente in der Pyritzer Region". Da um diese Zeit in Pyritz auch die Dobrowolska-Monographie erstmals zum Zwecke der Nachbildung rezipiert wurde (vgl. 2.) und sich in den anschließenden Jahren Hinweise auf die planmäßige Folklorisierung der Gesellschaft häufen, kann man diese Ausarbeitung gewissermaßen als Auftakt der Revitalisierung der Pyritzer Tracht ansehen. In ihrer Charakterisierung der verschiedenen Volkskunstbereiche befindet die Autorin: "Das auffälligste und strittigste Merkmal der Pyritzer Gegend ist die Tracht, überladen mit einer Masse von Einzelheiten, reich sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Schmuckwerk. Sie ist weder den deutschen noch den polnischen Trachten ähnlich" (S. 29). Dobrowolskas Ausführungen klingen an, wenn Zelwan erläutert: "Die genauere Analyse hat gezeigt ..., daß die Pyritzer Tracht nicht nur mit westeuropäischen Elementen verbunden ist - daher die Form der Tracht -, sondern auch durch gewisse kaschubische und sorbische Eigenschaften mit den slawischen Trachten in Zusammenhang steht" (S. 29). Als vorderstes Merkmal slawischer Verwandtschaft nennt Zelwan die reiche Stickerei; das üppig bestickte Schultertuch scheint ihr vollständig aus der heimischen in die neue Tracht verpflanzt worden zu sein. Ganz konsequent wirkt vor diesem Hintergrund folgender Hinweis: "Die Pyritzerinnen bestickten ihre Tracht nicht selbst, sondern gaben sie in Auftrag bei Stickerinnen autochthoner Abstammung .... Daher ist auch die Ausführungsart der früheren Stickerei slawisch" (S. 29). Hier folgt sie unkritisch jenem Irrtum Dobrowolskas, es habe im Vorkriegspommern einen nennenswerten polnischen Bevölkerungsanteil gegeben. War schon der Artikel von Zelwan ein Hinweis auf eine für die Beschäftigung mit Volkskunst günstige Atmosphäre, so kann man die Gedanken von Danuta Kułakowska (14) zu den "Entwicklungsmöglichkeiten der Volkskunst in der Wojewodschaft Stettin" als offizielle Bestätigung jenes Eindrucks werten. Es handelt sich bei diesem Text um eine Ausarbeitung, die im Auftrag der "Cepelia" (Centrala Przemysłu Ludowego i Artystycznego [Zentrale der Volks- und Kunstproduktion]) verfasst wurde. Diese Organisation, 1949 als Zusammenschluss der (Volks-)Kunsthandarbeitsgenossenschaften gegründet und seit 1990 zur Stiftung umgewidmet (mit Sitz jeweils in Danzig), hatte (und hat) zum Ziel, die Werte der materiellen polnischen Volkskultur zu erhalten, u. a. indem sie Volkskünstler bei ihrer Produktion unterstützt/e und den Vertrieb der Erzeugnisse organisiert/e. Das Vorwort zu Kułakowskas Ausführungen zeigt, dass sich in diesen Jahren im Umgang mit den Westgebieten eine Wende vollzieht, denn "die bisherigen Feldforschungen in den wiedergewonnenen Gebieten wurden in traditioneller Weise durchgeführt: Dokumentationen von Relikten slawischer Kultur und traditioneller Arbeiten, die die Siedler mitgebracht hatten sowie Ausarbeitungen zum historischen Prozeß, in dem sich die Volkskultur dieser Regionen bildete" (S. 1). Entsprechend "herrscht dagegen ein Mangel an aktueller Information über Zahl, Verbreitung und Schaffensmöglichkeiten von Volkskünstlern sowie an Materialien, die die kulturellen Wandlungen abbilden, die auf die Besiedlung dieser Regionen mit Siedlern verschiedener kultureller Herkunft zurückzuführen sind" (S. 1). Kułakowskas Untersuchung verfolgt daher das innovative Ziel, eine Zustandsbeschreibung aller Erscheinungen von Volkskunst in der Wojewodschaft zu erstellen, um zu konkreten Aussagen zu gelangen, wie die "Cepelia" Volkskünstler unterstützen könnte. Zu den zwölf untersuchten Kreisen gehört auch Pyrzyce/Pyritz. Der dem Kreis Pyritz gewidmete Absatz umfasst in dieser Darstellung eine halbe Seite, die Hälfte davon befasst sich mit der landwirtschaftlichen Situation. Es finden sich einige konkrete Hinweise auf regionale Volkskunst: "In Pyritz wurde ein kleines Heimatmuseum eingerichtet, in dem sich auch einige Teile der Pyritzer Tracht befinden" (S. 17). Hierbei handelt es sich um ein durch den ortsansässigen Historiker Edward Rymar in den Räumlichkeiten der Stadtbibliothek eingerichtetes kleines Museum. Leider ist diese Einrichtung aus dem Jahr 1967 später einem Brand zum Opfer gefallen (Edward Rymar hat die Einrichtung allerdings inzwischen wiederaufgebaut und interessantes, vielfältiges Material zum Thema gesammelt, welches dankenswerterweise zum Teil in diese Projektarbeit einfließen konnte). Der zweite Hinweis von Kułakowska befasst sich mit Lieder- und Tanzgruppen des Pyritzer Landes: "Im Kreisgebiet gibt es zwei Tanzgruppen: Die Lieder-und-Tanzgruppe des Pyritzer Landes in Pyritz am Gymnasium sowie die Lieder- und Tanzgruppe in Lipiany/Lippehne an der Grundschule Nr. 1" (S. 17). In der allgemeinen Darstellung der Entwicklung der Volkskunst weist Kułakowska darauf hin, dass seit 1956 alljährlich im Wojewodschaftskulturhaus im Stettiner Schloss Ausstellungen von Amateurvolkskunst stattfinden (Organisatorin: Hanna Orska), wobei die Palette der Exponate sehr schmal sei und die Zahl der Aussteller schrumpfe (S. 30). Das Resümee der Autorin fällt - für Ethnographen in modernen Staaten wohl wenig verwunderlich - düster aus: "Die Feldforschungen, die Personen ausfindig machen sollen, die die Tradition der Volkskunst fortsetzen könnten, kommen mindestens 20 Jahre zu spät. Derzeit ist die ältere Generation, die noch alle traditionellen Arbeiten auszuführen versteht, in einem Alter, in dem die Schaffensfähigkeit schon begrenzt ist" (S. 35). Die Abhandlung mündet in acht konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen der "Cepelia"; einer davon bezieht sich auf die Pyritzer Volkskunst: "Pyritzer Tracht und Stickerei sowie einige Schmuckmotive, die im Gebiet der Wojewodschaft Stettin in Form von Museumsstücken vorgefunden wurden, können nicht zur Basis der Entwicklung der Volkskunst in der Region werden, da es keine Tradition in diesen Arbeiten gibt. Diese Elemente der regionalen Kunst können Grundlage für die Fertigung und Gestaltung von (Reise-)Andenken werden" (S. 87). Dass den Pyritzer Mustern doch eine über das Souvenir-Dasein hinausgehende Zukunft beschieden war, ist zwei polnischen Stickerinnen (Mutter und Tochter) aus Pyritz zu verdanken (s. u. Abschn. 2.) Ein archivalisches Dokument aus dem Jahr 1972 (15) lässt erkennen, dass die im zweiten Abschnitt beschriebene "Karriere" der in Dobrowolska (1955) enthaltenen Abbildungen kein Zufall, sondern im Gegenteil beabsichtigt war: "1972 wurde beim Genossenschaftsverband der Volks- und Kunstindustrie ´Cepelia´ ein Fonds zur Entwicklung der Volkskunst geschaffen, der eine breite und aktive Tatigkeit der ´Cepelia´ im Bereich des Schutzes und der Pflege der Volkskunst ermöglicht. Eine der Förderungsformen, die bereits mit langjähriger Erfahrung durchgeführt wird, besteht in Wettbewerben. Wir legen darauf besonderen Wert, weil sie die Entdeckung bislang unbekannter Talente erlauben" (S. 85). Dabei bleibt auch die Situation der Volkskünstler nicht unberücksichtigt: "Der Handelsapparat der ´Cepelia´ kann eingereichte Wettbewerbsarbeiten abnehmen, was für die Volkskünstler eine zusätzliche Attraktion und die Möglichkeit einer dauerhaften Zusammenarbeit darstellt" (S. 85). Hintergrund dieser Bekenntnisse ist die mit der Gründung jenes Fonds verbundene Aktion "Volkskultur ist ein Gut des Volkes", die breiten Bevölkerungsschichten die Werte der traditionellen Volkskultur näherbringen soll für "die Bildung der sozialistischen Kultur" (S. 89). In diesem Dokument finden sich Hinweise auf eine "Gesellschaft der Volkskünstler" (Stowarzyszenie Twórców Ludowych; S. 101) sowie auf Bemühungen um ein Regionalmuseum in Barlinek bei Pyritz. Aus den 1980er Jahren liegen keine Dokumente vor. Nach der politischen Wende 1989 entstand die "Zeitung des Pyritzer Landes" (Gazeta Ziemi Pyrzyckiej). Neben anderen lokalen Geschehnissen berichtet dieses Organ auch häufig über die Aktivitäten der oben genannten Pyritzer Tanzgruppen. Schließlich seien noch kurz die Anmerkungen von Lucyna Turek-Kwiatkowska gestreift zu "Sammeltätigkeiten und der Entstehung von städtischen Museen in Pommern im 19. und 20. Jahrhundert" (16), da sie als ein Beispiel der "Stillen Post" in der Wissenschaft gelten könnten. Denn entgegen allen Aussagen in der deutschen Literatur zur Weizackertracht, auf die sich wiederum alle polnischen Aussagen zu diesem Thema stützen (vgl. Dobrowolskas Charakteristik der Quellen), behauptet Turek-Kwiatkowska in ihrem Kommentar zum Museum in Pyritz (von Robert Holsten im Gymnasium eingerichtet): "An erster Stelle stand das Museum in Pyritz, in den 30er Jahren ein spezifisches Folklorezentrum, wo Trachten erhalten wurden - eine Frauentracht, eine Kindertracht, und von der Männerkleidung ein Hut, eine Jacke und eine Weste. Dies war die einzige Gegend, wo die Landbevölkerung es unterließ, moderne, städtische Kleidung zu tragen, und bei ihrer Kleidung verblieb" (S. 90f.). Beide Aussagen, zum "Folklorezentrum" der 1930er Jahre und zum Trachttragen, sind unzutreffend. 2. Zur "Karriere" der rekonstruierten WeizackertrachtIm ersten Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen hat die Monographie von Dobrowolska im gesellschaftlichen Leben offenbar keinen Widerhall gefunden. Ob es an Versuchen gefehlt hat, mittels der umfangreich illustrierten Monographie Folkloregruppen zu animieren, oder ob es dafür einfach keinen fruchtbaren Boden in Pyritz gab, lässt sich schwer sagen. Überhaupt können hier nur schlaglichtartige Beobachtungen festgehalten werden, weil es eine systematische Dokumentation von Abbildungen jedweder Art und Realien nicht gibt. Erstmalig zu Gesicht bekam eine Pyritzer Stickerin die Monographie Dobrowolskas 1967 als Auszeichnung bei einem Stickerei-Wettbewerb. Ihre Mutter war die erste, die bekannt wurde als Stickerin von Pyritzer Mustern - sie stickte nämlich ein Schultertuch nach und schenkte es dem Pyritzer Kulturhaus. Die Tochter hat die Abbildungen in der Monographie nachgestickt und ein Album daraus angelegt. Diese beiden Frauen blieben allerdings die einzigen, die nach diesen Mustern stickten. Selbst in einer Stickerei-Gruppe, die im Pyritzer Kulturhaus angesiedelt war und an der sich in den 60er und 70er Jahren ca. sieben Personen beteiligten, hat ihnen niemand nachgeeifert. Später hat die Tochter sowohl für das Kulturhaus als auch für deutsche Auftraggeber Trachtenteile gegen Bezahlung als "Complet" angefertigt. Eine der Abnehmerinnen, eine heute in Westdeutschland lebende gebürtige Pyritzerin, bemängelte an den Stickereien unzulängliche Exaktheit, was sich insbesondere auf der Rückseite der Arbeiten zeige. Behauptete Dobrowolska in ihrer Monographie, die Deutschen hätten sich von Polinnen ihr Stickwerk arbeiten lassen, erkennt die deutsche Auftraggeberin offenbar nur "deutsche Wertarbeit" als qualitativ hochwertig an; sie selbst zu leisten, ist sie dagegen nicht willens oder in der Lage.
Die "neue" Tracht ist bei Dobrowolska jedoch nicht eine der existenten "Kolonisten-Trachten", wie man annehmen könnte, sondern stellt vielmehr ihrerseits die Konstruktion einer "Pyritzer Tracht" (so die Bildunterschrift) dar, angefertigt von derselben Malerin, die auch die alte Tracht "rekonstruiert" hat (vgl. Tafel I und III). Die Darstellung der Frauentracht auf dem Wimpel scheint auf die allernötigsten Erkennungsmerkmale zusammengeschrumpft worden zu sein, um sie ihrer Funktion gerecht anzupassen - es handelt sich um eine "Tanztracht". Die einzigen erhaltenen charakteristischen Merkmale sind die blaue Haube, unter dem Kinn gebunden, ein weißer Rüschenkragen sowie entfernt die Silhouette. Schultertuch, Strickstrümpfe, bestickte Schürze u. ä. fehlen gänzlich. Damit hat man bei dieser Nachbildung auf alle Elemente verzichtet, die Dobrowolska als genuin slawisch bezeichnet.
Diese (in ideologie-logischem Sinne: Fehl-)Entwicklung wird dem Leser der Monographie von Dobrowolska förmlich aufgedrängt: Denn das "richtige" Vorbild für alle Revitalisierungen, die rein slawische "alte Pyritzer Tracht", die auch jene Stickerin in ihr Album integriert hat, befindet sich am Ende der Monographie (Tafel III); die von Dobrowolska so genannte "Pyritzer Tracht" dagegen vereint slawische und westeuropäische Einflüsse und ist am Anfang der Darstellung als Tafel I abgebildet. Lediglich ein Element jenes tanzenden Trachtenpaares ist "slawischer" als in Tafel III: der Mann trägt statt eines Zylinders eine Pelzkappe auf dem Kopf. Mit dieser Anordnung und Betitelung suggeriert die Autorin, dass tatsächlich eher die Konstruktion als die Rekonstruktion als Ausgangspunkt für weitere Bemühungen aufgegriffen werden solle. Verfolgte sie wirklich diese Absicht, so hieße dies, dass sie an die Geschichte doch nicht schon bei der slawischen Besiedlung anknüpfen will, sondern auch die westeuropäische Kolonisation als historische Realität anerkennt mit all ihren kulturellen Einflüssen, inklusive des deutschen. Diese Intention stünde indessen der Rede von den "wiedergewonnenen Gebieten" als ursprünglich slawischen diametral entgegen. Bei der Eröffnung des neuen kleinen Museums des Pyritzer Landes, die am 2. März 2001 in der Pyritzer Stadtbibliothek stattgefunden hat, war der Geist von Dobrowolskas Monographie gleich in zweifacher Hinsicht zugegen. Einmal in Gestalt eines Paares im Gewand einer der Tafel I nachgeahmten Tracht (Schultertuch, Schürze, Strümpfe aus der Produktion erwähnter Stickerin). Dieses Paar hielt feierlich ein Band, das den Eingang zur Ausstellung versperrte und von einem Ehrengast durchschnitten wurde, und bediente während der ersten Besichtigung die geladenen Gäste. Ob die Tracht in dieser Weise ohnehin für die Inszenierung der Ausstellungseröffnung eingeplant war oder ob das aus Deutschland bekundete Forschungsinteresse an der Tracht diesen Programmpunkt provoziert hatte, ist nicht bekannt.
Die Bedeutung der Tracht - und sekundär der Dobrowolska-Arbeit - für das regionale Selbstbewusstsein lässt sich deutlich an der weiteren Form ihrer Gegenwart ablesen. Gegen Ende der Feierlichkeit trat nämlich ein ca. 10-jähriges Mädchen an einzelne Gäste heran und zeigte ein für die Schule selbst gefertigtes Buch zur Geschichte von Pyritz, das etliche selbst gezeichnete Bilder enthielt. Neben Stadtansichten fanden sich - wohl aus Dobrowolska kopierte - Abbildungen der Tracht, die das Mädchen farbig ausgemalt hatte.
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URL zur Zitation dieses Beitrages: https://www.bkge.de/weizackertracht/8033.html Anmerkungen(1) Gajek 1946, S. 403. (2) Stelmachowska 1946a. (3) Stelmachowska 1946b. (4) Alle Kapitelüberschriften sind kursiv wiedergegeben. (5) Meyer 1990. (6) Piotrowski 1954. (7) Frankowska 1957, S. 280. (8) Dobrowolska 1955a. (9) Die polnische Bevölkerung im früheren Hinterpommern hatte einen Anteil von weniger als zwei Prozent und konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Grenzkreise Bütow/Bytów und Lauenburg/Lębork (Rybicki 1967, S. 57f.; vgl. zu der Problematik insgesamt Kosiński 1960; Zdrojewski 1972, S. 52f. ). (10) Frankowska 1957. (11) Dobrowolska 1958, S. 439. (12) Dobrowolska1959. (13) Zelwan 1968. (14) Kułakowska 1969. (15) Wojewódzki Archiwum Państwowe w Szczecinie, Sign. PWRN/6250: Brief der "Cepelia" an den nationalen Wojewodschaftsrat (Abteilung Kultur) in Stettin vom 12.1972. (16) Turek-Kwiatkowska 1998. Stand:
13.12.2011 |
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