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5. Textile Materialien - historische Trachten und NachbildungenWährend der Erhebung stellte sich heraus, dass die Trachtenbestände in den Museen (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nationalmuseum Stettin) gut dokumentiert sind. Die Beiträge von Claudia Selheim und Iwona Karwowska zeigen dies in ausführlicher Form. Hier soll nur kurz auf Einzelbestände hingewiesen werden. Die volkskundlichen Bestände des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg resultieren aus der bedeutenden Privatsammlung Oskar Klings, Frankfurt/Main, die das Museum 1894 übernahm. Darunter sind auch zwei Figurinen mit Weizackertracht. Die Sammlung Kling wurde neu inventarisiert und die Ergebnisse liegen als Katalog vor. Wir profitierten von der Neuinventarisierung, da wir wesentliche Daten übernehmen konnten. Die Frauen- und Männerkleidung, die auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert werden kann, stammt nicht von einer Trägerin bzw. einem Träger. Schon damals gelang es dem Sammler Kling offensichtlich nicht, die komplette Tracht einer Person zu erhalten. Aus den Unterlagen geht hervor, dass die Trachten aus Einzelstücken von verschiedenen Trägern bzw. Trägerinnen zusammengestellt worden sind. Darüber hinaus befinden sich im Museum eine Haube, zwei Strumpfbänder, eine Umhängetasche, ein Hemdchen, ein Hemdmieder, eine Jacke, eine Bernsteinkette mit Zier- und Bindeband, zwei Schürzen, eine Stirnbinde, eine Halskrause, diverse Strümpfe, ein Paar "halbe" Handschuhe, zwei Schultertücher, drei Kinderröcke, eine Kinderjacke, eine Kinderschürze, ein Paar Strümpfe und ein Seidenband. Aus einem Reisebericht aus den 1950er Jahren geht hervor, dass sich damals im Nationalmuseum Stettin eine vollständige Frauentracht befunden habe. Ob dem tatsächlich so war, ist nicht zu klären. Laut Aussage der Kustodin war das Nationalmuseum nie im Besitz einer vollständigen Frauentracht, wohingegen der Leiter des Stadtarchivs in Pyritz in einem Gespräch ebenfalls von einer Tracht im Stettiner Museum berichtete. Wir konnten lediglich einzelne Bestandteile von Trachten sowie eine in den 1990er Jahren von einer Schülerin gefertigte Trachtenpuppe in Weizackerkleidung aufnehmen. Es handelt sich um ein Paar Strümpfe, eine Tasche, ein Paar Handschuhe sowie ein Schultertuch. Die Trachtenpuppe ist nicht inventarisiert. In den Heimatstuben sind die Objekte nicht inventarisiert. Dafür ist zum einen die völlig andere Motivation des Sammelns und zum anderen die begrenzte Arbeitskapazität der Betreiber und Betreiberinnen verantwortlich, die die Heimatstube in der Regel als Hobby betreiben. Die Ostdeutsche Heimatstube Korbach besteht aus einem Raum im städtischen Bürgerhaus. Dieser Raum ist Depot und Ausstellungsraum zugleich, sodass die Objekte dicht gedrängt zusammen stehen. Hier befinden sich eine männliche und weibliche Figurine, die mit nachgebildeter Weizackertracht bekleidet sind. Die Stadt Korbach, Partnerstadt von Pyritz, beteiligte sich an den Kosten für die Anfertigung von nachgebildeten Weizackertrachten, die noch heute von der Pommerschen Landsmannschaft zu öffentlichen Anlässen getragen werden.
Interessant ist, dass sich unter dem nachgebildeten Frauenrock ein historischer Unterrock befindet. Die Rezeptionsgeschiche überlagert hier palimpsestartig die Geschichte. Der ältere Rock scheint in Vergessenheit geraten zu sein, denn die Verantwortliche der Heimatstube war von dessen Existenz genauso überrascht wie wir. In Vitrinen befinden sich kleinere, originale Bestandteile der Tracht wie Schultertuch, Handschuhe und Strümpfe. Ein Schultertuch hängt an der Wand. Mit der Anfertigung von Nachbildungen benutzen Vertriebene für ihre Erinnerung "Stellvertreter" des Originals. Damit dieses vor dem Verschwinden geschützt wird, wird je ein Exemplar der weiblichen und männlichen Tracht an einen sicheren Ort gebracht und somit musealisiert, während die weiteren Nachbildungen zu öffentlichen Anlässen von der pommerschen Landsmannschaft getragen werden. Ihrer einstigen Funktion enthoben, nicht mehr verwendet, um Abnutzung und Veränderung zu vermeiden, sind sie in eingefrorenem Zustand verewigt. Mit den Nachbildungen versuchen die Vertriebenen nicht nur Elemente ihrer Herkunftskultur wieder aufleben zu lassen, sich ihrer zu besinnen, sie zu bewahren, sondern auch sie zu revitalisieren, sie in einer Herkunftskulturen-Renaissance hochleben zu lassen. Hier wird die Rezeptionsgeschichte durch die Tracht materialisiert. Hinter der Sehnsucht und der aktiven Erinnerung verbirgt sich nicht nur die Absicht, die Herkunftskultur zu musealisieren, sondern gleichzeitig soll ihre Museumsreife dementiert werden. Im Grunde genommen sind die Nachbildungen Neuschöpfungen, die die Vorstellung der Vertriebenen von ihrer Tracht bzw. wie sie die Tracht erinnert wissen wollen, dokumentieren. Die Musealisierung der Nachbildung heißt, dass die Kleidung erinnert wird, die im heutigen Leben der Vertriebenen eine größere Rolle spielt als es die Originaltracht je tat. Denn nur wenige der Vertriebenen haben die Weizackertracht tatsächlich getragen und wenn, so nur kurze Zeit in der Kindheit. Die Ostdeutsche Heimatstube in Bersenbrück (Niedersachsen) ist im zweiten Stock des dortigen Heimatmuseums (abgetrennt im hinteren Teil) untergebracht. Auch hier sind zwei Figurinen mit nachgebildeter männlicher und weiblicher Weizackertracht vorhanden, die mit einer Tracht aus einem anderen Gebiet in einer Vitrine sowie mit Spinnrad und Haspel ausgestellt sind. Die Nachbildungen entsprechen ihrem äußeren Erscheinungsbild nach denen in Korbach. Wie uns mitgeteilt wurde, wurden die Kleidungsstücke in den 1960er Jahren angefertigt. Genauere Informationen darüber konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Die Ostdeutsche Heimatstube Goldenstedt (Niedersachsen) befindet sich in einem alten Schulgebäude. Neben Ausstellungsräumen ist hier ein Versammlungsraum vorhanden. Hier tagen die Landsmannschaften regelmäßig. In einem abgegrenzten Raum sind nachgebildete Trachten der ehemaligen ostdeutschen Regionen untergebracht, darunter auch eine weibliche Tracht des Weizackers. Wir erfuhren, dass eine Schneiderin diese mit Hilfe der bildlichen Vorlagen einer originalen Tracht für eine Volkstanzgruppe angefertigt hat. Entsprechen sich die Nachbildungen in Korbach und Bersenbrück, so weicht diese völlig davon ab. Der Rock ist blau und hat einen schwarzen Stoffstreifen. Als Schultertuch dient ein industriell gefertigtes Tuch aus dem aktuellen Angebot mit bedruckten Rosenmotiven auf weißem Untergrund. In einem zweiten, weit entfernten Raum sind Bücher, Wand- und Trachtentafeln, Skulpturen, Bleiglasfenster, Gemälde, Fotos etc. zum Weizacker und zur Weizackertracht ausgestellt. Hier sind sowohl historische als auch Gegenstände zu finden, die neu angefertigt wurden, wie etwa das die Weizackertracht zeigende Bleiglasfenster. Anders als die Museen bewahren die Heimatstuben vor allem Nachbildungen auf, die in der Regel aus den 1960er Jahren stammen. In allen drei Heimatstuben erhielten wir nur vage Informationen darüber, wann, wer, wo, warum die Tracht herstellte und wie hoch die Kosten waren etc. Heimatstuben gleichen Wunderkammern mit einem Sammelsurium zufällig erhaltener Überreste, Quellen und Nachbildungen. Eine Auswahl der Exponate nach Bildungszielen, nach ihrer Bedeutung als Informationsquelle im Ausstellungszusammenhang oder nach ihrem ästhetischen und emotionalen Wert findet nicht statt. Das liegt zum einen daran, dass die genutzten Räumlichkeiten als Depot und Ausstellungsraum zugleich dienen. Zum anderen geht es aber auch darum, Fragmente der Heimat zu zeigen, deren Verlust immer mitschwingt. Bei den aufbewahrten und ausgestellten Objekten überwiegt deren Symbolwert und nicht deren Dokumentationswert. Der Geschichtssinn des Gegenstandes ist irrelevant, emotionale Lücken und Defizite sollen ausgeglichen werden. Vor allem die Frauentracht des Weizackers eignet sich aufgrund ihrer symbolischen Prägnanz für die Erinnerung und somit für die Nachbildung. Ihre Farbenprächtigkeit, die auch in dem niederdeutschen Gedicht "Rot als de Moon, blau as de Kornblum, möt use Mädels n’on Danzen gohn" betont wird, sowie ihre aufwändigen Accessoires (Schultertuch, Anzahl der Röcke, bestickte Strümpfe und Handschuhe, Bernsteinkette, Tasche etc.) spiegeln den Reichtum des fruchtbaren Weizackers wider. Die Nachbildungen werden funktional den heutigen Bedürfnissen angepasst. Die Anzahl der Röcke hat sich vermindert, die Stoffe sind leichter, die Accessoires weniger geworden. Die Erhebungen in Korbach, Bersenbrück und Goldenstedt zeigen, dass auch die nachgebildeten Trachten nicht uniform sind. Sie variieren regional ebenso in ihrem äußeren Erscheinungsbild wie die historischen Trachten. Dabei überwiegt der Symbolwert der Tracht, der vor allem darin besteht, dass sie historische Prozesse und Strukturen vergegenwärtigen kann, weil sie aus ihnen stammt oder mit ihnen verbunden ist. Parallel zu den textilen Nachbildungen wird in den Heimatstuben ebenfalls mit historischen Bildern an die getragene Tracht im 19. Jahrhundert erinnert. Über das Objekt hinaus soll ein Bild von Vergangenheit gezeigt werden, das für vorzeigenswert gehalten wird. Gottfried Korff spricht hier von einem Zeichensystem. Demnach kann Objekten ein Sinn zufallen, wenn das Zeichensystem, in dem es steht oder stand, vielen unmittelbar einsichtig ist. Dass das bei der Weizackertracht der Fall ist, belegen die zahlreichen Publikationen zur Tracht sowie die Bestrebungen Anfang des 20. Jahrhunderts, die Tracht zu erhalten. Dabei handelt es sich bei den "vielen, denen das Zeichen unmittelbar einsichtig ist", um die an der gesamten Bevölkerung gemessen kleinen Gruppe der pommerschen Heimatvertriebenen. Hinzu kommt, dass die Weizackertracht Anfang des 20. Jahrhunderts kaum mehr getragen wurde. Mit dem Ablegen der Tracht begann ihr "denkmalartiges" Dasein unter einem Glassturz, denn nun wanderten Trachtenpuppen in die Häuser. Wer es sich leisten konnte, präsentierte die Puppen in einer eigens dafür angefertigten Vitrine in der Wohnstube (Fotos belegen dies). Oder die Mutter von Käthe Backhaus etwa wickelte ihre Puppe, die sie 1894 geschenkt bekommen hatte, in Stoff ein und verwahrte sie im Kleiderschrank. Frau Backhaus berichtete uns, dass sie nur zu besonderen Anlässen mit der Puppe spielen durfte. Zusammenfassend bietet sich wohl folgende These an: Im 19. Jahrhundert wurde die Tracht getragen, zunehmend weniger. Um 1900 in Zusammenhang mit der Neoromantik und der Heimatbewegung wird die stark zurückgegangene Tracht aufgewertet, nun auf der symbolischen Ebene für Volkstum etc. Die NS-Zeit hat ein ambivalentes Verhältnis zur Tracht, am liebsten würde sie eine moderne, gestylte Tracht sehen. Schließlich nach 1945: Für die Polen scheint sie die emotionale Besitznahme des zugewiesenen Territoriums zu thematisieren, vor der forcierten Volkstumsideologie der KP; für die Vertriebenen symbolisiert sie alte Heimat, wird auf Vertriebenentagen getragen (im Sinn von um 1900) und lebt in Puppenform fort.
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13.07.2005 |
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